Norwegens Außenminister Espen Barth Eide, einer der kenntnisreichsten Nahost-Experten, bringt den offenkundigen Widerspruch zwischen der realpolitischen Lage im weitgehend zerstörten Gaza-Streifen sowie im besetzten Westjordanland einerseits und die jüngsten Anerkennungen eines Staates Palästina durch namhafte europäische Staaten sowie Kanada und Australien andererseits auf diesen Nenner: "Palästina befindet sich an einem Wendepunkt – und wir stehen an einem Scheideweg."
Während die internationale politische Unterstützung für eine Zwei-Staaten-Lösung selten so stark gewesen sei wie heute, "ist die Lage vor Ort schlechter denn je", so der norwegische Chefdiplomat. Norwegen hatte 2024, zusammen mit Irland und Spanien, einen palästinensischen Staat anerkannt.
Gaza-Streifen "fast vollständig dem Erdboden gleichgemacht"
Ähnlich schätzt auch die renommierte Chefkorrespondentin der BBC, Lyse Doucet, die Situation ein: Sehr spät erfolge die Anerkennung eines Staates Palästina durch Großbritannien, Kanada und Australien. Denn deren Ankündigungen kämen zu einem Zeitpunkt, an dem das Ziel "noch nie so unerreichbar schien", schreibt Doucet auf der BBC-Webseite. Das angestrebte "Staatsgebiet" verschwinde "schneller als je zuvor". Der Gaza-Streifen sei "fast vollständig dem Erdboden gleichgemacht worden".
Zeitgleich würden israelische Minister immer lauter fordern, "die Palästinenser zu vertreiben, um dieses ´Grundstück` neu zu bebauen". Das besetzte Westjordanland sei bis auf die formelle Bestätigung "nun fast vollständig annektiert". Israel drohte, dies offiziell zu machen, und jüdische Siedlungen breiteten sich in beispiellosem Tempo aus. Dennoch sende die Anerkennung durch die drei einflussreichen Länder "ein wichtiges Signal" aus. Symbole seien in der Diplomatie von Bedeutung.
Anerkennung als Staat – Was bedeutet das?
Was eine Staatlichkeit ausmacht? Die Kriterien über die "Rechte und Pflichten von Staaten" wurden in der gleichnamigen Konvention von Montevideo im Dezember 1933 aufgestellt. Damals wurde diese Konvention von 20 nord-, mittel- und südamerikanischen Staaten verabschiedet.
Der erste Artikel gibt vier Kriterien aus, die eine Staatlichkeit erfüllen müsse: eine dauerhafte Bevölkerung, festgelegte territoriale Grenzen, eine Regierung und die Fähigkeit, internationale Angelegenheiten zu regeln. Die Anerkennung eines Staates beinhalte somit eine offizielle Bestätigung, "dass ein angehender Staat diese Bedingungen im Großen und Ganzen erfüllt", wie die "New York Times" in einer Analyse der praktischen Folgen der Anerkennung eines Staates Palästina schreibt. Auch wenn territoriale Grenzen umstritten seien, könne die Anerkennung erfolgen.
Erfüllt Palästina die Vorgaben?
Auf einer grundlegenden Ebene seien "viele Experten für internationales Recht" der Auffassung, "dass die Kriterien für die Anerkennung eines palästinensischen Staates erfüllt" seien. So gebe es eine "permanente Bevölkerung und ein festes Staatsgebiet".
Die Grenzen seien zwar umstritten. Sie würden aber "allgemein als die von Israel im Sechs-Tage-Krieg von 1967 eroberten Gebiete verstanden", also der Gazastreifen, das Westjordanland und Ostjerusalem. Die Palästinensische Autonomiebehörde, so die "New York Times" in ihrer Analyse weiter, sei die Regierungsinstanz.
Obgleich es angesichts der "israelischen Besetzung des Westjordanlandes und dem Hamas kontrollierten Gazastreifen erhebliche Einschränkungen" gebe, was die Autonomiebehörde tun könne: Die Anerkennung eines palästinensischen Staates bedeute die Errichtung von direkten diplomatischen Beziehungen zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde und den ausländischen Staaten, die eines Staat Palästina anerkennen.
Folgen für die anerkennenden Länder
Mit der Anerkennung gehen die inzwischen mehr als 150 Länder, die dies getan haben, Verpflichtungen ein. Dazu könne, so Professor Ardi Imseis von der juristischen Fakultät der Queens Universität im kanadischen Ontario, "eine vollständige Überarbeitung der bilateralen Beziehungen zu Israel" zählen. Ein Land, das Palästina anerkenne, müsse seine Abkommen mit Israel überprüfen.
Der Grund: Diese Länder müssten sicherstellen, dass sie nicht gegen ihre Verpflichtungen gegenüber einem palästinensischen Staat verstoßen. Wie der frühere UN-Beamte Ardi Imseis in der "New York Times" hinzufügt, gehörten dazu die "politische und territoriale Integrität sowie die wirtschaftlichen, kulturellen, sozialen und zivilen Beziehungen".
Mit Blick auf die Handelsbeziehungen zu Israel würde etwa ein Land, das den Staat Palästina anerkennt, bei Importen von landwirtschaftlichen Produkten, die von Siedlern in den besetzten Gebieten erzeugen würden, "eine unrechtmäßige Handlung unterstürzen und begünstigen", so Paul Reichler zur "New York Times". Reichler gelte weltweit als eine der angesehensten Persönlichkeiten auf dem Gebiet des Völkerrechts und vertrete souveräne Staaten vor dem Internationalen Gerichtshof.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!