Die Schlagzeilen der israelischen Tageszeitungen spiegeln die Genugtuung über den Tod von Jahja Sinwar wider, der gestern von israelischen Soldaten im Süden des Gazastreifens getötet worden ist: "Der Teufel von Gaza ist ausgeschaltet", "Er starb wie ein Hund", "Unter den Trümmern, mit einer Kugel im Kopf".
Doch in den Kommentaren der israelischen Medien wird der Blick bereits auf die politischen Folgen der Tötung des Hamas-Chefs im Gazastreifen gerichtet. Die Hamas sei ihres Kopfs und ihrer militärischen Fähigkeiten beraubt worden. Die Hisbollah im Libanon habe einen Großteil ihrer Kommandoebene verloren sowie einen erheblichen Teil ihrer militärischen Fähigkeiten. Deshalb sei jetzt der richtige Zeitpunkt, um einen "diplomatischen Schritt zu unternehmen".
Israel, so heißt es, habe etwas zu bieten: "Die Beendigung des Krieges an beiden Fronten", schreibt die Tageszeitung "Yedioth Ahronoth". Im Gegenzug habe Israel etwas, das es wolle: Die Freilassung der Geiseln, die Entmilitarisierung des Gazastreifens, die Entmilitarisierung des Südlibanons sowie ein neues UN-Mandat für die Überwachung des Hisbollah-Abzugs aus dem Süden des Libanons.
Was wird aus den Geiseln?
Unmittelbar nach der Bekanntgabe der israelischen Behörden, dass Jahja Sinwar getötet worden sei, versammelten sich Hunderte von Angehörigen der Geiseln vor dem Verteidigungsministerium im Tel Aviv. Sie forderten eindringlicher denn je, dass die Netanjahu-Regierung nun endlich die Verhandlungen über die Freilassung der rund 100 Geiseln im Gazastreifen zu einem Ergebnis bringen müsse.
Bislang hatte Sinwar das alleinige und letzte Wort bei den indirekten Verhandlungen mit Israel, die von den USA, Ägypten, Katar und Jordanien geführt worden waren. Sinwar dürfte, als Hauptverantwortlicher für das Massaker vom 7. Oktober 2023 und die Geiselnahme von über 250 Menschen, als einer der Wenigen in Gaza gewusst haben, wo und von wem die Geiseln gefangen gehalten werden. So dürfte es für das Verhandlungsteam schwierig werden, herauszufinden, mit wem sie im Gazastreifen jetzt noch einen verbindlichen Geisel-Deal abschließen kann.
Wer Sinwar nachfolgen wird, ist bislang ungewiss. Israelische Medien berichten, die Restbestände des militärischen Arms der Hamas seien in vier Gruppierungen zerfallen, die untereinander kaum mehr in Kontakt stünden.
Welche Interessen hat Israels Premierminister?
In einer kurzen Videobotschaft sprach Premierminister Benjamin Netanjahu von einem großen Sieg, doch der Krieg sei noch nicht zu Ende. Der Krieg sei schwierig und "er kommt uns teuer zu stehen". Es lägen weiterhin noch "große Herausforderungen vor uns", sagte Netanjahu.
Nach dem von Sinwar befohlenem Massaker vom 7. Oktober hatte der Premierminister stets zwei Kriegsziele benannt: Die Zerstörung der Hamas als militärische und politische Kraft im Gazastreifen und die Rückkehr der Geiseln. Erst dann werde Israel den "totalen Sieg" über die Hamas errungen haben.
Beide Kriegsziele sind nach über einem Jahr Krieg, in dem mehr als 42.000 Palästinenser getötet und weite Teile des Küstenstreifens in Trümmer gelegt worden sind, bislang nicht erzielt worden. Unverändert greifen Hamas-Bewaffnete die israelischen Einheiten im Gazastreifen an. Von den 101 Geiseln, die sich nach israelischen Medienberichten noch in den Händen der Hamas befänden, seien vermutlich mehr als 30 Menschen nicht mehr am Leben.
Angehörige der Geiseln warfen Netanjahu am Donnerstagabend erneut vor, an einem Geisel-Deal nicht interessiert zu sein. Die Mutter eines verschleppten jungen Mannes, Einav Zangauker, rief den Premierminister auf, jetzt einen neuen Vorstoß zur Freilassung der Geiseln zu unternehmen, "selbst auf Kosten der Beendigung des Krieges". Falls er dies nicht tun sollte, bedeute dies, so die Mutter weiter, "dass er beschlossen hat, die Geiseln aufzugeben, um den Krieg zu verlängern und seine Herrschaft zu festigen".
Was ist mit der Hisbollah und dem Iran?
Sowohl die schiitische Hisbollah-Miliz im Libanon als auch die iranische Führung haben nach dem Tod Sinwars angekündigt, ihren Kampf gegen Israel fortzusetzen – und zu intensivieren. Man trete in eine "neue Phase" im Krieg gegen Israel, erklärte die Hisbollah bereits in der Nacht zum Freitag.
Die Meldung von der Tötung des uneingeschränkt im Gazastreifen herrschenden Hamas-Anführers hat vorübergehend die Vorbereitungen Israels für einen Vergeltungsschlag gegen den Iran überdeckt. Der Iran hatte am 1. Oktober Israel mit knapp 200 Mittelstrecken-Raketen angegriffen. Dieser war laut Iran eine Reaktion auf die Tötung von führenden Mitgliedern der Hamas und der Hisbollah durch Israel. Seitdem bereitet sich die gesamte Region auf die militärische Reaktion Israels vor. Das US-Verteidigungsministerium verlegte deshalb vor wenigen Tagen eine ihrer hochleistungsfähigen Raketenabwehr-Stellungen samt 100 Soldaten als Bedienungspersonal nach Israel, um einen möglichen iranischen Erwiderungsschlag abwehren zu können.
Im Schatten der US-Präsidentschaftswahlen
Vor dem Wahltag in den USA, dem 5. November, dürfte Israels Premierminister dem Drängen der scheidenden Biden-Regierung nach einem Geisel-Deal, einer Waffenruhe in Gaza sowie einer diplomatischen Lösung im Libanon kaum nachkommen. Das Verhältnis Netanjahus zu US-Präsident Joe Biden gilt als zerrüttet. Zu oft habe sich Netanjahu seit dem 7. Oktober nicht an die Zusagen gehalten, die er gegenüber Biden eingegangen sei.
Der US-Journalist Bob Woodward zitierte in seinem frisch erschienenen Buch "War" den amerikanischen Präsidenten mit den Worten: Netanjahu sei "ein Lügner". Israels Premierminister macht umgekehrt auch keinen Hehl daraus, dass er eine Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus begrüßen würde, statt sich gegebenenfalls mit der Demokratin Kamala Harris auseinandersetzen zu müssen. Harris hatte im Wahlkampf stets das Recht Israels auf Selbstverteidigung betont, jedoch ebenso regelmäßig auf die katastrophale Situation der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen hingewiesen.
Im Video: Nach Sinwars Tod - Nahost zwischen Hoffnung und Krieg
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