Darum geht’s:
- Die Nationalsozialisten bauten das Deutsche Reich 1933 mithilfe terroristischer Methoden zu einer Einparteienherrschaft um und gingen mit Gewalt gegen ihre Gegner vor.
- Grundsätze der liberalen Demokratie, wie sie heute in der Bundesrepublik gelten, schafften sie damals ab.
- Historiker bezeichnen einen Vergleich des damaligen Geschehens mit dem heutigen Umgang mit der AfD als falsch.
Anfang Mai veröffentlichte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eine weitreichende Einschätzung. Der Bundesverband der AfD - und damit die gesamte Partei - sei "gesichert rechtsextremistisch". Das "ethnisch-abstammungsmäßige Volksverständnis" in der Alternative für Deutschland (AfD) sei "nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar". Zu diesem Schluss kam das BfV in einem nicht öffentlichen, mehr als 1100 Seiten langen Bericht. Die AfD reichte dagegen beim Verwaltungsgericht Köln Klage ein. Daraufhin verpflichtete sich das BfV in einer "Stillhaltezusage", die Partei zumindest bis zu einem Urteil nicht mehr öffentlich als gesichert rechtsextremistisch zu bezeichnen.
Historiker: NS-Vergleiche sind faktisch falsch
In den Tagen nach der Veröffentlichung der Einstufung empörten sich Personen im Internet. In vielen Beiträgen und Kommentare beschwerten sich Personen, die Behandlung der Partei sei undemokratisch. Und es verbreiteten sich Vergleiche mit der Verfolgung von Oppositionellen während der nationalsozialistischen Herrschaft.
So schrieb ein Nutzer auf der Karriereplattform LinkedIn: "Gestern SPD, heute AfD? Demokraten aufgepasst. Der Faschismus kommt wieder - diesmal getarnt als Antifaschismus." Darunter ein Text, der an das Verbot der SPD am 22. Juni 1933 durch die Nationalsozialisten erinnert. Historiker sagen: Diese Vergleiche sind faktisch falsch und geschichtsrevisionistisch. Dazu später mehr.
Ein Vergleich des Umgangs mit der AfD mit der Verfolgung der Opposition in der NS-Zeit ist Historikern zufolge geschichtsverfälschend.
Bundesverfassungsschutz unterliegt demokratischer Kontrolle
Christian Waldhoff ist Verfassungsrechtler an der Humboldt-Universität in Berlin. Er erläutert, die nachrichtendienstliche Beobachtung von extremistischen und verfassungsfeindlichen Bestrebungen gehöre zur wehrhaften bundesrepublikanischen Demokratie dazu. Die wehrhafte Demokratie sei "eine spezifische Demokratiekonzeption, die das Grundgesetz aus der historisch schlechten Erfahrung aufgenommen hat".
Der Bundesverfassungsschutz unterliege hierbei einer demokratischen Kontrolle sowohl durch das Bundesinnenministerium, als auch durch den Deutschen Bundestag, so Waldhoff: "Gerade Sicherheitsbehörden werden natürlich genau vom Parlament kontrolliert und beobachtet." Dafür ist unter anderem das Parlamentarische Kontrollgremium im Bundestag zuständig. Seine Mitglieder dürfen Akten des BfV einsehen, haben Zutritt zu seinen Dienststellen und können Angehörige des Nachrichtendienstes befragen.
"Damals verfolgten die Verfassungsfeinde die Verfassungsfreunde"
In der Praxis geht das BfV zwei Zwischenschritte, bevor er eine Partei als gesichert extremistische Bestrebung einstuft. Ist eine Partei ein Prüffall, darf das BfV lediglich Informationen aus öffentlich zugänglichen Quellen über sie sammeln. Stuft das BfV eine Partei zu einem Verdachtsfall hoch, darf es selbst Informationen über die Partei sammeln, indem es sie beobachtet. Erst im dritten Schritt stuft das BfV eine Partei dann als gesichert extremistische Bestrebung ein.
Waldhoff sagt: "Damals verfolgten die Verfassungsfeinde die Verfassungsfreunde, heute beobachten und beraten die Verfassungsfreunde über Mittel gegen die Verfassungsfeinde." Die "Ultima Ratio" der wehrhaften Demokratie sei ein Parteienverbot, so Waldhoff.
Formal hat das BfV aber nichts mit einem möglichen Verbotsverfahren zu tun. Lediglich Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung könnten einen Antrag auf ein Parteiverbot beim Bundesverfassungsgericht stellen.
Ein Parteienverbot hat zudem ganz eigene Voraussetzungen. Das Bundesverfassungsgericht könnte die AfD nur dann verbieten, wenn es feststellt, dass die Partei eine verfassungsfeindliche Haltung vertritt und diese in aktiv-kämpferischer, aggressiver Weise umsetzen will. Für die Beweisführung eines solchen Verbotsverfahrens könnten die Indizien des BfV für die Einstufung als "gesichert rechtsextremistisch" durchaus eine Rolle spielen.
AfD kann klagen, in NS-Deutschland war das nicht möglich
Jens-Christian Wagner ist Direktor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora sowie Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er sagt: "Der Hauptunterschied ist, dass der Nationalsozialismus eine brutale Diktatur gewesen ist, die sich auf Terror gründete. Heute leben wir in einer liberalen parlamentarischen Demokratie, deren Grundsatz die Rechtsstaatlichkeit ist." Die AfD hat inzwischen gegen ihre Einstufung als rechtsextremistisch geklagt. Eine Möglichkeit, die es unter der Herrschaft der NSDAP für oppositionelle Parteien nicht gegeben habe, so Wagner.
Ein Blick darauf, wie die Nazis die Weimarer Republik zu einer Ein-Parteien-Herrschaft umbauten, zeigt: Die Unterschiede zur Einstufung der AfD durch den Verfassungsschutz sind groß.
Nazis nutzten Reichstagsbrand, um Oppositionelle zu verfolgen
Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Etwa einen Monat später, in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933, brannte der Reichstag in Berlin. Die Nazis erklärten schnell Kommunisten zu den Schuldigen und nutzten die sogenannte Reichstagsbrandverordnung, um Oppositionelle zu verfolgen.
Wagner erklärt: "Das war eine Notverordnung, die sämtliche Grundrechte außer Kraft setzte. Darunter das Versammlungsrecht, die Vereinigungsfreiheit, die Meinungsfreiheit und das Recht auf Briefgeheimnis." Damit konnten die Nazis auch politische Gegner willkürlich verhaften.
Andreas Wirsching, Professor für Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Direktor am Institut für Zeitgeschichte (IfZ), führt aus: "Auf der Basis der sogenannten Reichstagsbrandverordnung, mit der wesentliche Grundrechte aufgehoben wurden, haben die Nationalsozialisten Terror ausgeübt. In manchen Städten wie in Coburg haben sie regelrechte Prügelstuben eingerichtet." Dort habe es Gewaltorgien gegen Kommunisten, Gewerkschafter und Sozialdemokraten gegeben.
Herbst 1933: Das Deutsche Reich ist Einparteienstaat und brutale Diktatur
Das am 23. März 1933 beschlossene Ermächtigungsgesetz übertrug die Gesetzgebung vollständig an die Reichsregierung unter Adolf Hitler. Damit war die Gewaltenteilung beendet. Wirsching sagt: "Auf dieser Basis fand binnen weniger Monate die sogenannte Gleichschaltung statt, das heißt: Die pluralistische Gesellschaft wurde mundtot gemacht, die Zivilgesellschaft massiv drangsaliert und klar benannte Gegner verfolgt. Das waren die SPD, die KPD, die freien Gewerkschaften - und im Februar, März, April ging auch die Judenverfolgung los."
Bereits im April 1933 folgte das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. "Das war ein Gesetz, das es ermöglichte, Beamte zu entlassen, die oppositionellen Parteien angehörten, insbesondere der SPD und KPD. Es wurde im übrigen auch genutzt, um Jüdinnen und Juden aus dem Beamtendienst zu entlassen", sagt Wagner.
Im Laufe des Jahres 1933 verboten die Nazis dann alle Parteien bis auf die NSDAP - oder erzwangen ihre Selbstauflösung. "Spätestens im Herbst 1933 gab es einen Einparteienstaat, eine brutale Diktatur, die ohne Gefährdung durch irgendeine Form von Opposition ihr Programm durchsetzen konnte", so Wagner. Die Grundsätze der liberalen Demokratie, wie sie heute in der Bundesrepublik gelten, waren damit abgeschafft.
Opferrolle als klassische rechtsextreme Argumentation
Dass rechtspopulistische und rechtsextreme Akteure sich als Opfer einer vermeintlichen Verfolgung darstellen, ist für IfZ-Direktor Andreas Wirsching nichts Neues: "Die Selbstviktimisierung ist die Schwester des Rechtsextremismus."
Dominik Hammer forscht am Institute for Strategic Dialogue zu rechtsextremen Onlineaktivitäten. Auch er sagt im Gespräch mit dem #Faktenfuchs: "Es ist eine klassische Argumentation in rechtsextremen Kreisen, dass man Opfer eines autoritären oder totalitären Regimes sei oder, dass die Bundesrepublik Deutschland keine Demokratie sei."
Diese Argumentation erfüllt laut Hammer mehrere Zwecke:
- Die Grenzen zwischen demokratischem Verfassungsstaat und faschistischer Diktatur sollen verwischt werden. "Damit soll die Legitimität der bundesrepublikanischen Institutionen untergraben werden", sagt Hammer.
- Ein Appell an das Gerechtigkeitsgefühl von Menschen soll eine Solidarisierung beschwören. "Man solidarisiert sich ja erstmal aus moralischen Gründen mit Leuten, die vermeintlich ungerechtfertigterweise verfolgt werden", so Hammer.
- Eine Gegenüberstellung zwischen dem vermeintlich "wahren Volk" und dunklen Mächten, die ihm angeblich entgegenarbeiten. "Das können klassische Verschwörungstheorien sein - oder ein herbeifantasierter totalitärer Staat."
Argumentation soll demokratiefeindliche Agenda legitimieren
Auch Léonie de Jonge, Rechtsextremismusforscherin an der Universität Tübingen, schreibt dem #Faktenfuchs: Das Opfer-Narrativ diene dazu, "demokratische Institutionen zu delegitimieren, die eigene Position zu emotionalisieren und Anschlussfähigkeit an breitere gesellschaftliche Milieus herzustellen".
Besonders deutlich sei dieses Muster während der Corona-Pandemie gewesen, als sich rechtsextreme Akteure in ganz Europa mit "Regimegegnern" verglichen. "Aber auch außerhalb dieses Kontextes wird das Motiv der Ausgrenzung oder Verfolgung regelmäßig von der AfD aufgegriffen, zum Beispiel gegenüber der Presse (‘Lügenpresse’) oder im Umgang mit staatlichen Behörden", so de Jonge.
Ziel dieser Argumentation sei stets, die eigene demokratiefeindliche Agenda als legitime Reaktion auf vermeintliche Unterdrückung darzustellen.
Fazit
Die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler bauten die Weimarer Republik 1933 innerhalb weniger Wochen zu einer Ein-Parteien-Diktatur um. Sie schafften Grundrechte ab, verfolgten und inhaftierten oppositionelle Politiker und verboten sämtliche Parteien außer der NSDAP.
Diese Vorgänge mit einer möglichen Einstufung der AfD durch den Bundesverfassungsschutz als "gesichert rechtsextremistisch" zu vergleichen, bezeichnen Historiker als Geschichtsrevisionismus. Der Bundesverfassungsschutz ist durch das Grundgesetz legitimiert und demokratisch kontrolliert.
Forschern zufolge ist es eine bekannte Argumentationsstrategie rechtsextremer Akteure, sich selbst als Opfer einer vermeintlichen Unterdrückung darzustellen. Damit werde das Ziel verfolgt, demokratische Institutionen zu delegitimieren und eine Solidarisierung zu beschwören.
Im Video: Verfassungsschutz oder AfD – Wer zerstört hier die Demokratie?
Quellen
Interview mit Dominik Hammer, Research Manager beim Institute for Strategic Dialogue Germany
Interview mit Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Interview mit Christian Waldhoff, Professor für Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Humboldt-Universität Berlin
Interview mit Andreas Wirsching, Leiter des Instituts für Zeitgeschichte und Professor für Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Schriftliche Antwort von Léonie de Jonge, Professorin für Rechtsextremismus an der Universität Tübingen
Bundesamt für Verfassungsschutz: Aufsicht und Kontrolle
Bundesarchiv: 7. April 1933: Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums
Bundesministerium des Innern: Parteiverbot
Bundestag: 1933 - Das Ende der Parteien
Bundestag: Vor 90 Jahren: Reichstag billigt "Ermächtigungsgesetz"
Bundesverfassungsschutzgesetz: §3 Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden
Bundesverfassungsschutzgesetz: §4 Begriffsbestimmungen
Bundeszentrale für politische Bildung: Hindenburg ernennt Hitler zum Reichskanzler
Bundeszentrale für politische Bildung: Reichstagsbrand - auf dem Weg in die Diktatur
Legal Tribune Online: Rechtsextremistisch eingestuft - so gut wie verboten?
Merkur.de: Gedenken an Opfer der Nazi-Folterkammer
Spiegel: Verfassungsschutz stuft gesamte AfD als gesichert rechtsextremistisch ein
Tagesschau: Warum die AfD "gesichert rechtsextremistisch" ist
Tagesschau: Was bedeutet die neue Einstufung - und was sind die Folgen?
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