Darum geht’s:
- Der Autor eines Artikels im Manager Magazin behauptete im Jahr 2018, nur 15 Millionen Menschen in Deutschland trügen das Gemeinwesen. Doch die Zahl ist fehlerhaft.
- Mindestens 50 Prozent der deutschen Haushalte zahlen mehr Steuern und Abgaben, als sie Transferleistungen vom Staat bekommen.
- Die einkommensstärksten zehn Prozent tragen 33 Prozent der gesamten Steuerlast in Deutschland.
"Wer Deutschland am Laufen hält". So lautet die Überschrift einer Grafik, die derzeit für Diskussionsstoff auf X, ehemals Twitter, sorgt. Laut der Grafik gibt es angeblich nur 15 Millionen "Nettosteuerzahler" in Deutschland, 69 Millionen leben demnach von Steuern.
Aber für die zugrunde liegende Rechnung gibt es keine belastbaren Belege, zeigt dieser #Faktenfuchs. Die Hälfte der Haushalte in Deutschland zahlt mehr Steuern und Abgaben, als sie Transferleistungen vom Staat bekommt. Zu diesem Ergebnis kommen die übereinstimmenden Berechnungen zweier Wirtschaftsinstitute.
Die Rechnung, die dieser Grafik zugrunde liegt, ist fehlerhaft.
Die Grafik veröffentlichte das AfD-nahe Magazin "Krautzone" bereits im Juni 2023 erstmals. Als Quelle ist auf der Grafik das "Manager Magazin" vermerkt, auf Nachfrage des #Faktenfuchs verweist der Krautzone-Chefredakteur Florian Müller auf einen Manager Magazin-Artikel vom 28. August 2018. Darin heißt es, in Deutschland gebe es 27 Millionen "Nettosteuerzahler", von denen 12 Millionen beim Staat beschäftigt seien. Daher trügen lediglich 15 Millionen Menschen das Gemeinwesen in Deutschland. Und weiter: "Von den 15 Millionen sind wiederum rund 8 Millionen jünger als 44 Jahre. Die bessere Hälfte, also rund vier Millionen Top-Leister, müssen künftig unser Gemeinwesen tragen."
Autor der Quelle räumt auf Nachfrage Fehlerhaftigkeit der Zahl ein
Autor des Artikels ist der Ökonom und Publizist Daniel Stelter. Sein Sprecher schreibt auf #Faktenfuchs-Anfrage: "Die fragliche Grafik ist eine Umsetzung des Magazins ohne Abstimmung mit dem Autor des Beitrags", und weiter: "Dr. Stelter hätte nicht versucht, den komplexen Sachverhalt mit den beschränkten Mitteln einer Grafik darzustellen, weil sie selbst bei richtiger Verwendung der genannten Zahlen, den Sachverhalt verkürzt."
Der Sprecher räumt jedoch auch ein: Die Zahlen im Manager Magazin-Artikel hätten Schwächen, Stelter habe sie nicht wieder verwendet. Laut Statistischem Bundesamt (Destatis) gab es in Deutschland im Jahr 2018 42,4 Millionen steuerpflichtige Menschen. Auf #Faktenfuchs-Anfrage schreibt Destatis, der Begriff "Nettosteuerzahler" sei weder in der amtlichen Statistik definiert noch würden Daten dazu erhoben. Auch auf Nachfrage liefert Stelter keine Erklärung dafür, wie sich die Zahl von 27 Millionen "Nettosteuerzahlern" ergibt.
Eine weitere "Schwäche", die Stelters Sprecher einräumt: Die im Artikel genannten 12 Millionen seien nicht nur - wie behauptet - "beim Staat Beschäftigte", sondern alle Beschäftigten im öffentlichen Sektor. Was genau unter den öffentlichen Sektor fällt, und wie sich die 12 Millionen zusammensetzen, bleibt allerdings ebenfalls auch auf Nachfrage bei Stelter unbeantwortet. Laut Statistischem Bundesamt arbeiteten 2018 4,8 Millionen Menschen im öffentlichen Dienst - also deutlich weniger als die behaupteten 12 Millionen. Dazu zählen alle Staatsbediensteten bei Bund, Ländern und Gemeinden wie Lehrerinnen, Soldaten, Richterinnen oder Polizisten.
Soziologe sprach schon 2010 von "Nettosteuerzahlern"
Obwohl "Staatsbedienstete" in Stelters Artikel von jenen Menschen abgezogen sind, die das Gemeinwesen tragen, schreibt sein Sprecher in seiner Antwort an den #Faktenfuchs: "(...) natürlich leisten die Mitarbeitenden im ÖD (Öffentlicher Dienst, Anm. d. Red.) einen Beitrag, was so auch im Artikel steht".
Ursprünglich stammen die Zahlen laut Stelters Sprecher vom Bremer Soziologieprofessor Gunnar Heinsohn, der die Schwächen der Zahlen Stelter gegenüber sogar eingeräumt habe. Warum Stelter diese Zahlen ungeprüft übernommen hat, erklärt er auf #Faktenfuchs-Anfrage nicht. Bereits 2016 schrieb Heinsohn in einem Gastkommentar für die "Neue Zürcher Zeitung" von 27 Millionen Nettosteuerzahlern, von denen 12 Millionen "direkt oder indirekt vom Staat abhängen". 2010 schrieb Heinsohn in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" von 25 Millionen "Nettosteuerzahlern". Heinsohn ist 2023 verstorben, weshalb der #Faktenfuchs ihn nicht persönlich dazu befragen konnte.
Einkommenssteuern sind nur ein Drittel aller Steuern
Doch stimmen die Zahlen von Gunnar Heinsohn? Welche belastbaren Zahlen zur Verteilung der Steuerlast in Deutschland gibt es? David Gstrein ist Doktorand in der Forschungsgruppe Steuer- und Finanzpolitik am ifo-Institut München. Er sagt: "Ganz allgemein Beschäftigte im öffentlichen Dienst als Personen darzustellen, die dem Staat auf der Tasche liegen und nichts beitragen, macht wenig Sinn. Es braucht Beschäftigte, die die Leistungen des Staats überhaupt erst möglich machen."
Gstrein hat weitere grundsätzliche Kritikpunkte an der Rechnung und der Darstellung in der Grafik. Erstens: "Diese Darstellung bezieht sich nur auf die Einkommenssteuer. Da fehlt zum Beispiel die Umsatzsteuer." Die Lohn- und Einkommenssteuer macht nur ungefähr ein Drittel des Steueraufkommens aus.
Richtig ist: Laut Bundesfinanzministerium bezahlen die zehn Prozent der Deutschen, mit den höchsten Einkommen, rund 57 Prozent aller Lohn- und Einkommenssteuern. Laut einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) von 2020 tragen die oberen 10 Prozent 33 Prozent der gesamten Steuerlast.
Gstreins zweiter Kritikpunkt: Viele Menschen, die in so einer Berechnung Nettoempfänger sind, erklärt Gstrein, waren entweder in der Vergangenheit Nettozahler oder werden es in der Zukunft sein. Denn darunter zählen sowohl Kinder als auch Rentner. "Wenn man das sauber machen will, müsste man das über den ganzen Lebenszyklus anschauen", so Gstrein.
Drittens sei die Betrachtung von Einzelpersonen in so einer Berechnung nicht sinnvoll, denn: "Auch innerhalb von Haushalten wird umverteilt. Manche Personen arbeiten mehr, die anderen kümmern sich um Kinder oder um Ältere, die Pflege brauchen." Von einer Person innerhalb eines Haushalts als Transferempfänger und von der anderen als "Nettozahler" zu sprechen, ergebe aufgrund dieser Aufgabenteilung wenig Sinn.
Ohne Rentner sind 60 Prozent der deutschen Haushalte "Nettozahler"
Dennoch stecke hinter den falschen Zahlen aus der Grafik eine echte Herausforderung, so Gstrein: "Der demographische Wandel führt natürlich dazu, dass immer mehr in Rente gehen und das führt zu einem Ungleichgewicht." Das sei aber nicht so extrem, wie in der Grafik dargestellt, betont Gstrein.
Gemeinsam mit Kollegen vom ifo-Institut untersuchte er in einer von der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung beauftragten Studie von 2023: Wie ist die Steuer- und Abgabenlast zwischen Haushalten in Deutschland verteilt? Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass ungefähr 50 Prozent der Haushalte in Deutschland mehr Steuern und Sozialabgaben zahlen, als sie Transferleistungen - etwa Kindergeld, Arbeitslosengeld oder Rente - vom Staat bekommen. Umgerechnet wären das mehr als 40 Millionen Menschen - deutlich mehr als die 15 Millionen auf der Grafik mit den "Nettosteuerzahlern". Im Gegensatz zu der Grafik betrachtet die ifo-Studie nicht nur die Steuern, sondern auch Sozialabgaben wie Rentenkassenbeiträge und Krankenkassenbeiträge.
Allerdings unterliegen auch die 50 Prozent des ifo-Instituts Einschränkungen, so Gstrein. Beispielsweise beziffert die ifo-Studie die Umverteilungswirkung innerhalb der Gesetzlichen Rentenversicherung nicht. Die Studie macht daher zwei Rechnungen auf: Einmal klammert sie die Rentner aus der Rechnung aus. In diesem Fall sind 60 Prozent der Haushalte Nettozahler. Und einmal zählt sie pauschal alle Rentner als Nettoempfänger. In diesem Fall sind 40 Prozent der Haushalte Nettozahler. Doch auch Rentner pauschal als Nettoempfänger zu zählen ist unvollständig, da sie während ihres Arbeitslebens in der Regel Beiträge in die Rentenkasse gezahlt haben.
"Schätzung von 50 Prozent Netto-Zahler-Haushalten ist wahrscheinlich die Realistischste"
Die Studie des ifo-Instituts bezieht nur Einkommenssteuern mit ein - andere Steuern, wie zum Beispiel Mehrwertsteuern und Tabaksteuern, werden auch hier nicht berücksichtigt. Letztgenannte Abgaben bezahlen meist auch Nettoempfänger, also Menschen, die mehr staatliche Leistungen erhalten als Steuern zu zahlen... Außerdem tragen Nettoempfänger mit ihrer Arbeit teils dazu bei, dass Unternehmen Steuern an den Staat bezahlen - beispielsweise Arbeitnehmer, die mit Bürgergeld aufstocken. Tobias Hentze, Leiter des Clusters Staat, Steuern und Soziale Sicherung am IW, sagte dem ARD-Faktenfinder im Jahr 2023 dazu: "Wenn sie in Unternehmen tätig sind und einen Lohn bekommen, dann bedeutet das, dass sie natürlich zur Wertschöpfung dieses Unternehmens beitragen - sonst würden sie den Lohn ja nicht bekommen."
Auch unter Einbezug dieser Unsicherheiten bleibt Gstrein vom ifo-Institut dabei: "Eine Schätzung von ungefähr 50 Prozent Netto-Zahler-Haushalten ist wahrscheinlich die Realistischste."
Bereits 2020 kam auch eine Studie des IW zu diesem Ergebnis: 50 Prozent der Deutschen sind Nettozahler von Steuern und Sozialabgaben. Die Studie bezog auch andere Steuern als die Einkommenssteuern mit ein - beispielsweise die Umsatzsteuer und die Tabaksteuer. Studienautor Martin Beznoska schreibt auf #Faktenfuchs-Anfrage: "Das Ergebnis ist im Prinzip weiter gültig, da sich an der Umverteilungswirkung des Steuer- und Transfersystems nichts grundlegend seitdem geändert hat. Die Abweichung bei einer Aktualisierung würde ich als minimal erwarten."
Sozialabgaben steht ein Leistungsanspruch gegenüber - Steuern nicht
Auch die IW-Studie weist allerdings darauf hin, dass für die Rentenversicherung und für die Arbeitslosenversicherung gelte: "je höher der Beitrag, desto höher der Leistungsanspruch." Dieser Effekt könne in der Studie nicht dargestellt werden.
Tommy Krieger forscht am ZEW - Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim zu Themen der politischen Ökonomie und Finanzwirtschaft. Er erklärt: "Den Abgaben für Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Krankenversicherung steht ein expliziter Anspruch auf eine Leistung gegenüber. Sie bekommen ja nicht in Deutschland einfach so eine Rente geschenkt, sondern Sie bekommen erst eine Rente, wenn Sie dafür eingezahlt haben." Steuern hingegen fließen in den Staatshaushalt - der auch Transferleistungen wie das Bürgergeld oder das Kindergeld finanziert.
Krieger sagt: "Der Begriff Nettosteuerzahler ist kein volkswirtschaftlicher Grundbegriff. Sie finden ihn nicht in Lehrbüchern." Er klinge wie eine klar definierte Kennziffer, die sich einfach berechnen lässt. Dieser Eindruck täusche, denn weder sei der Begriff fest definiert noch die Berechnung offensichtlich.
Fazit
Mindestens 50 Prozent der deutschen Haushalte zahlen mehr Abgaben und Steuern, als sie Transferleistungen vom Staat bekommen. Zu diesem Ergebnis kommen die Berechnungen zweier Wirtschaftsforschungsinstitute. Für die Grafik, die behauptet, in Deutschland gebe es 15 Millionen "Nettosteuerzahler", gibt es keine belastbaren Belege. Sie bezieht sich auf einen Artikel, der Autor dieses Artikels räumt aber ein: Die zugrundeliegenden Zahlen für die Berechnung sind fehlerhaft.
Quellen:
Interviews/Presseanfragen:
Interview mit David Gstrein, Doktorand in der Forschungsgruppe Steuer- und Finanzpolitik am ifo-Institut
Interview mit Dr. Tommy Krieger, ZEW - Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Forschungsbereich "Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft"
Anfrage an Dr. Martin Beznoska, Senior Economist für Finanz- und Steuerpolitik am Institut der Deutschen Wirtschaft
Anfrage an das Statistische Bundesamt
Anfrage an "Krautzone"
Anfrage an Dr. Daniel Stelter
Veröffentlichungen
Bundesfinanzministerium: Datensammlung zur Steuerpolitik 2024
ifo Institut: Die Verteilung der Steuer- und Abgabenlast in Deutschland und im EU-Vergleich
IW Köln: Die Verteilung von Steuern, Sozialabgaben und Transfereinkommen der privaten Haushalte
IW Köln: Staatliche Umverteilung: Wer zahlt, wer empfängt
Statistisches Bundesamt: Steuereinnahmen
Tagesschau Faktenfinder: Wer finanziert den Sozialstaat?
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!