Israels Premierminister Benjamin Netanjahu bei einer Pressekonferenz.
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Netanjahus "Mission": Die Bibel als Playbook?

Netanjahus "Mission": Die Bibel als Playbook?

Israels Premier hat sich zu "Großisrael" bekannt. Kritiker werfen ihm vor, andere Länder annektieren zu wollen. Die Berufung auf die Bibel spielt eine Rolle. Doch mit jüdischer Tradition habe das wenig zu tun, sagt Judaistik-Experte Ghilad Shenhav.

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Israels Premier Benjamin Netanjahu hat dem israelischen Fernsehsender "i24News" gegenüber eingeräumt, der Vision "Großisrael" anzuhängen. Warum Politiker wie Netanjahu gegen die jüdische Tradition verstoßen, welche biblische Grundlage der Begriff "Großisrael" hat und welche Rolle die Rechtsextremisten spielen: ein BR24-Interview mit Ghilad H. Shenhav, der an der Ludwig-Maximilians-Universität München jüdische Geschichte und Kultur erforscht.

BR24: Herr Shenhav, was bedeutet der Begriff Großisrael?

Ghilad H. Shenhav: Das lässt sich nicht eindeutig beantworten, weil die Bibel viele Bilder des Landes Israel kennt. Das bekannteste steht in Genesis, Kapitel 15, wo es um Abraham geht und die göttliche Verheißung des Landes Israel "vom Strom Ägyptens bis zum Euphrat".

Das ist die weitreichendste Vision vom Land Israel, die das Westjordanland, den Gazastreifen, Jordanien, den Libanon, Syrien und sogar Teile des Irak und der Türkei mit einschließt. Allerdings muss man sagen, dass diese Verheißung selbst bei radikalen Strömungen in Israel heute nicht wirklich relevant ist, und auch in der Geschichte immer eine Minderheitenposition war.

BR24: Was meint dann Netanjahu, wenn er von Großisrael spricht?

Shenhav: Ich denke, er meint die Gebiete, die Israel im Sechstagekrieg 1967 erobert hat und seitdem besetzt hält: Ost-Jerusalem, Gaza, die Golanhöhen und Samarien, also das Westjordanland. Die Frage ist, was er mit diesen Gebieten machen möchte, ob er sie wirklich israelisch besiedeln möchte, wie er teilweise andeutet und es radikalere Stimmen – und Netanjahu ist ja selbst ziemlich radikal – fordern.

Im Video: Netanjahus Vision von Großisrael: Vom Mittelmeer bis in den Irak?! Possoch klärt!

Gaza als Sodom und Gomorrha

BR24: Ist "Großisrael" also ein Handlungsaufruf?

Shenhav: Es kommt darauf an, wen man fragt. Für viele Juden war über die Jahrhunderte der Diaspora die Vorstellung eines "Großisrael" ein theoretischer Gedanke, eine Utopie und keine politische Forderung. Manche Teile der Rechtsextremen meinen damit aber durchaus, dass Israel weitere Gebiete erobern und besiedeln soll.

Seit dem 7. Oktober ist in Israel eine stärkere Tendenz zu beobachten, die Bibel wörtlich zu lesen. Vorher gab es das vor allem in der radikalen zionistischen Bewegung, nun fingen auch andere an, aus der Bibel konkrete Anweisungen herauszulesen oder das Vorgehen im Krieg zu rechtfertigen.

Netanjahu sagte zum Beispiel öfter, die Hamas sei eine heutige Manifestation der biblischen Amalekiter, also ein Volk, das man auslöschen darf; andere sprachen von Gaza als Sodom und Gomorrha, was natürlich hochproblematisch ist. Dabei steht diese Art, die ich "biblischer Literalismus" nenne, also wörtliche Lesart der Bibel, im Widerspruch zur jüdischen Tradition.

"Die Bibel ist kein Handbuch mit konkreten Anweisungen"

BR24: Warum?

Shenhav: Juden haben in ihrer Geschichte die Bibel kaum nur wörtlich gelesen. Sie muss immer ausgelegt werden und jede Auslegung bleibt offen für Diskussion; eine absolute Antwort gibt es nicht. Und wer heute die Bibel als politische Botschaft mit direkten Befehlen auffasst, verlässt damit die Jahrhunderte alte Art, in der Juden die Bibel verstanden haben. Leute wie Netanjahu sind keine großen Theologen, sie benutzen die religiösen Quellen einfach für ihre politischen Zwecke.

"Seit dem 7. Oktober suchen viele Israelis nach Orientierung"

BR24: Warum hat das Erfolg?

Shenhav: Seit dem 7. Oktober suchen viele Israelis nach Orientierung und Erklärungen, warum uns dieses schlimme Attentat widerfahren ist und sind empfänglich für solche vereinfachten Antworten. Dabei muss man klar sagen: Man kann in den jüdischen Quellen auch ganz andere Antworten finden, die zu einer anderen Politik führen und dabei helfen können, eine friedliche Lösung zu finden.

Der Babylonische Talmud zum Beispiel bietet viele Denkanstöße, wie man den Dialog und die Versöhnung mit unseren Nachbarn vorantreiben könnte. Biblischer Literalismus, wie ihn Netanjahu und andere betreiben, ist eben nur eine Art der Interpretation. In der aktuellen Zeit kann man das nicht oft genug betonen.

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