Die aktuelle Haushaltsdebatte zeigt einmal mehr: Deutschland steckt in finanziellen Schwierigkeiten. Die nächsten Haushalte sind teilweise schuldenfinanziert. Derweil ist eine zum Teil erbittert geführte Debatte über den Sozialstaat entbrannt. "Der Sozialstaat ist ein Schatz", sagte kürzlich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Man müsse ihn reformieren, um seine Zukunft zu sichern.
Wirtschaftsexperten: Bisher geplante Reformen reichen nicht
Die schwarz-rote Koalition hat dazu den "Herbst der Reformen" ausgerufen, insbesondere die Unionsvertreter der Regierung. Doch was bislang auf dem Tisch liegt – etwa Kürzungen beim Bürgergeld und die Einführung einer Aktivrente – reiche bei weitem nicht aus. Davon zeigen sich drei der wichtigsten deutsche Wirtschaftswissenschaftler im Gespräch mit der "Münchner Runde" des BR überzeugt.
"Das ist eindeutig zu wenig", sagt ifo-Chef Clemens Fuest. "Zu viel Besitzstandswahrung" kritisiert sein Kollege Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Und Wirtschaftsweise Veronika Grimm bemerkt: "Man treibt lediglich Reformen voran, die keinem wehtun sollen."
Nano vom 25.10.2023: Demokratie unter Stress
Herbst der Entscheidungen - Kann Deutschland noch Reformen?
Darüber diskutieren am Mittwochabend in der Münchner Runde um 20:15 Uhr Ulrike Scharf (CSU), Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales, Michael Schrodi (SPD), Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Bernhard Stiedl, Vorsitzender des DGB Bayern, Michael Bröcker, Chefredakteur von Table.Media, sowie Manfred Gößl, Hauptgeschäftsführer der IHK für München und Oberbayern.
Die Rente als Kernproblem
Vor allem die Rechnung mit der Rente gehe nicht mehr auf, kritisieren die Ökonomen. Marcel Fratzscher rechnet vor: In den 1960er Jahren hätten sechs junge Menschen einen Rentner finanziert. Heute seien es wenig mehr als zwei. "Das kann nicht nachhaltig sein. Deshalb brauchen wir Reformen, die die Umverteilung von Jung zu Alt erst einmal stoppt, also nicht weiter erhöht."
Der Staat muss bei den Renten immer mehr zuzahlen. Im Haushaltsentwurf für 2025 machen allein die Zuschüsse 122,5 Milliarden aus – der größte Einzelposten. Veronika Grimm kritisiert, dass Deutschland in Friedenszeiten jahrzehntelang über seinen Verhältnissen gelebt habe: "Die Friedensdividende haben wir in die sozialen Sicherungssysteme gesteckt und den Menschen eigentlich zu viel versprochen" – und zwar mehr, als wir heute halten könnten.
Deutsche müssen länger arbeiten
Keiner der aktuellen Rentenreformpläne gehe das Grundproblem an, mahnen die Ökonomen. Die Garantie auf ein Rentenniveau von 48 Prozent "wird die Ausgaben massiv ansteigen lassen", so die Wirtschaftswissenschaftlerin Grimm. Ähnlich sei es mit der Ausweitung der Mütterrente.
Die Ökonomen sind überzeugt: Die Renten dürfen künftig weniger stark steigen, Wahlversprechen wie die Mütterrente sollen zurückgefahren und der Nachhaltigkeitsfaktor, der das Verhältnis von Rentnern zu Beitragszahlern berücksichtigt, wieder eingeführt werden. Vor allem aber müssen insgesamt mehr Menschen einzahlen.
"Wir müssen das Renteneintrittsalter zumindest im Durchschnitt erhöhen", sagt Marcel Fratzscher. Clemens Fuest fügt hinzu, dass man sich nicht auf Negativbeispiele konzentrieren solle, und fordert mehr Flexibilität: Wer länger arbeiten möchte, "denen sollte man das ermöglichen, statt sie quasi automatisch in den Ruhestand zu schicken, obwohl sie es nicht wollen".
Uneinigkeit beim Bürgergeld
Dass auch das Bürgergeld reformiert werden soll – zuletzt mit Kosten von 47 Milliarden Euro – kritisiert Marcel Fratzscher als "Scheindebatte". Das Einsparpotenzial sei zu gering, um Haushaltslücken zu schließen. Zweitens würde kein Bürger mehr Geld in der Tasche haben, wenn man bei den Schwächsten kürze.
Clemens Fuest und Veronika Grimm gaben dagegen zu bedenken: Es ginge auch um Anreize, damit sich Arbeit lohne. Zudem gehe es um Begriffe und Signale, so Fuest. "Bürgergeld" suggeriere, dass jeder darauf Anspruch habe, von anderen Menschen versorgt zu werden.
Reformbedarf jetzt
Einig sind sich die Ökonomen, dass Reformen jetzt dringend nötig seien. Clemens Fuest sagt, es ginge darum, den Sozialstaat, wie wir ihn haben, zu sichern und um eine kapitalgedeckte Altersvorsorge zu ergänzen: "Das gleiche gilt im Bereich Gesundheit, das gleiche gilt im Bereich Pflege."
Man müsse den Menschen reinen Wein einschenken, ergänzt Grimm: "Die Diskussion, wie sie aktuell läuft, dass sich die Parteien der Mitte wegducken und das eben nicht klar thematisieren, führt dazu, dass die Menschen immer unzufriedener werden." Schließlich könne jeder selbst nachrechnen, dass wir ein Problem hätten.
Marcel Fratzscher schließlich zeigte sich optimistisch: "Es ist nicht so, dass Menschen keine Veränderungen wollen, aber sie müssen eben so gestaltet sein, dass sie als gerecht wahrgenommen werden." Wenn dagegen jeder das Gefühl habe, nur bei ihm würde gespart, sei jede Reform zum Scheitern verurteilt.
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