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Selenskyjs Fehler: Der Präsident stellt den Korruptionskampf ein

Selenskyjs Fehler: Der Präsident stellt den Korruptionskampf ein

Mit der Entscheidung, zwei Anti-Korruptionsbehörden ihre Unabhängigkeit zu entziehen, hat der ukrainische Präsident Selenskyj für einen Sturm der Proteste im eigenen Land gesorgt. Und im Ausland. Die Rede ist von einem großen Fehler des Präsidenten.

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Es ist eine Krise, die der Präsident selbst verursacht hat: Binnen kürzester Zeit löste Wolodymyr Selenskyj die größten Protestdemonstrationen im Land aus, die die Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskriegs 2022 erlebt hat.

Die Bevölkerung reagiert mit entschlossenem Protest

Friedlich und entschlossen in ihrer Absicht, den Präsidenten zu einer Kurskorrektur zu bewegen, sind zahlreiche Menschen seit zwei Abenden bereits auf den Straßen. Sie halten, so berichtet es etwa die "Washington Post", selbstgemalte Schilder in die Höhe mit Aufschriften wie "Das hier ist die Ukraine, nicht Russland". Demonstranten aller Alters- und Bevölkerungsgruppen seien auf den Beinen. "Wir sind hier, um ihm zu helfen, nicht die falschen Entscheidungen zu treffen", wird ein 41-jähriger Tech-Unternehmer von der "Washington Post" zitiert, der mit seiner Frau und dem neunjährigen Sohn gestern Abend in Kiew bei den Protesten dabei war.

Der Grund für die eruptiv ausgebrochenen Reaktionen der Bevölkerung: Es gibt kein anderes Thema, das für die Menschen im Land eine so zentrale Bedeutung für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hat, wie der wirksame Kampf gegen die Korruption. Seit den Protesten auf dem Maidan in Kiews Innenstadt im Winter 2013/14 gehören die anschließend errichteten Anti-Korruptionsbehörden für die Ukrainerinnen und Ukrainer zur unantastbaren nationalen DNA - die jetzt durch die Entscheidung Selenskyjs beschädigt worden ist.

Überhastetes Gesetz entmachtet Anti-Korruptionsbehörden

Binnen kürzester Zeit stimmte das ukrainische Parlament am Dienstag einem Gesetzentwurf zu, der vom Präsidenten initiiert worden war: Die Nationale Korruptionsbehörde (Nabu) und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsfälle verloren ihre Unabhängigkeit. Beide Institutionen wurden der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt, deren Führungspersonal vom Präsidenten bestimmt wird.

Der Generalstaatsanwalt kann nunmehr jedes Ermittlungsverfahren einstellen, etwa gegen ehemalige und aktive Mitglieder des Führungszirkels um den Präsidenten. Das sei "schockierend und gleicht einem Putsch gegen einen Grundpfeiler des ukrainischen Staates", kommentiert der kundige Journalist Andreas Rüesch in der "Neuen Zürcher Zeitung". Die Abgeordneten hätten erst 15 Minuten vor der Abstimmung Einzelheiten über die geplanten Änderungen erfahren. Selenskyj habe eine "handstreichartige Attacke auf die Ermittlungsbehörden" ausgeführt. Das sei ein "Fehler, der so rasch als möglich korrigiert werden sollte".

Präsident Selenskyj begründete seine Entscheidung damit, dass es darum gehe, die russische Einflussnahme auf die beiden Anti-Korruptionsbehörden zu bekämpfen: "Die Infrastruktur zur Korruptionsbekämpfung wird funktionieren, aber nur ohne russischen Einfluss – dieser muss beseitigt werden", schrieb Selenskyj am Dienstagabend. Und: "Es sollte mehr Gerechtigkeit herrschen." Einen Tag vor der folgenreichen Entmachtung der unabhängigen Anti-Korruptionsbehörden führte der ukrainische Geheimdienst SBU am Montag Razzien in genau den beiden Behörden durch – ohne gültigen Durchsuchungsbeschluss, wie die NZZ berichtet.

Der Schaden in In- und Ausland ist immens

Dass der Schaden im In- und Ausland gewaltig sein würde, dass die Reaktionen auf das Ende der unabhängigen Anti-Korruptionsbehörden in der Bevölkerung und in den Reihen der europäischen Unterstützer-Staaten der Ukraine heftig sein würden: All dies dürfte Präsident Selenskyj vorher gewusst haben.

Für den EU-Beitrittsprozess, den Brüssel eingeleitet hat, ist das Kriterium "Kampf gegen die Korruption" von entscheidender Bedeutung. Entsprechend deutlich wurde daher EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Auch Bundeskanzler Merz und Frankreichs Präsident Macron ließen nach ihren Treffen gestern Abend mitteilen, sie wollten "die Gespräche über die Korruptionsbekämpfung mit dem ukrainischen Präsidenten intensiv führen".

Selenskyjs Motive bleiben rätselhaft

Die Enttäuschung im eigenen Land allerdings dürfte noch schwerwiegender für Selenskyj sein: Inmitten des über dreijährigen Abwehrkampfs gegen die russischen Invasoren einen derartigen Schlussstrich unter die Korruptionsbekämpfung zu ziehen, macht es der Bevölkerung noch schwerer, die massiven russischen Luftangriffe auf ihre Städte und Kommunen zu ertragen. Das Schlimmste sei, "dass das von unseren Feinden verwendet werden wird", sagte die ukrainische Parlamentsabgeordnete Ivanna Klympush-Tsintsadze von der Partei Europäische Solidarität der "Washington Post".

Warum Selenskyj diese massiven Eruptionen im eigenen Land und im Ausland in Kauf genommen hat, bleibt rätselhaft. Obgleich viele Spekulationen kursieren, dürfte erst mit einer Rücknahme des verhängnisvollen Gesetzes erkennbar sein, ob der Präsident seinen Fehler überzeugend korrigieren kann.

Im Video: Der Präsident stellt den Korruptionskampf ein

In der ganzen Ukraine gehen Tausende auf die Straße, um gegen das Gesetz zur Neuregelung der Antikorruptionsbehörden zu protestieren.
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