Istanbul wird auch einen Tag nach dem Erdbeben der Stärke 6,2 immer wieder erschüttert. Dem türkischen Innenminister Ali Yerlikaya zufolge gab es inzwischen Hunderte Nachbeben, das stärkste lag bei 5,9 – alle entlang der tektonischen Gräben im Marmarameer.
- Zum Podcast: Erdbeben - Wo sind die Gefahrenzonen?
Kommt "The Big One" erst noch?
Offiziellen Angaben zufolge wurden am Mittwoch 236 Menschen verletzt. Bislang sind Berichten zufolge rund 1.400 Schadensmeldungen an Gebäuden registriert worden. Das Beben hat zwar keinen größeren Schaden angerichtet – aber die Angst vor einer laut Experten unabwendbaren Katastrophe befeuert. Seismologen und Geologen, die in türkischen Medien zu Wort kommen, gehen in der Mehrzahl davon aus, dass ein großes Beben noch bevorsteht. Wann das der Fall sein könnte, kann niemand sagen – doch die Stärke könnte 7,4 betragen. Manche Fachleute rechnen sogar mit einer Magnitude von 7,7. Ein Experte warnte auch vor bis zu drei Meter hohen Tsunamis bei einem großen Beben.
Potsdamer Forscher: Zwei mögliche Szenarien
"Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es zwei Szenarien", sagte Marco Bohnhoff vom Potsdamer Helmholtz-Zentrum für Geoforschung. "Entweder ist die unmittelbare Region nun vorerst entspannt und die Seismizität klingt langsam ab, oder die durch das Beben erzeugten Spannungsumlagerungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für ein größeres Erdbeben in der Region." Eine Erschütterung etwa der Stärke 7,4 wäre rund 60-fach stärker als das stärkste der bisherigen Beben.
Plattentektonik und seismische Aktivität in der Türkei
Bewohner in Angst
Präsident Recep Tayyip Erdogan versuchte die Menschen am Mittwochabend zu beruhigen: "Als Staat werden wir weiterhin rund um die Uhr mit allen unseren Einheiten in Alarmbereitschaft bleiben und für unsere Nation arbeiten, die Situation unter Kontrolle zu haben."
Doch beruhigt sind wohl die wenigsten der Bewohnerinnen und Bewohner. Wer es sich leisten kann, sucht das Weite. Viele Menschen verließen mit dem Auto die Stadt. Es kam zu Staus. Viele Inlandsflüge waren ausgebucht. Orhan Belge, Präsident der Vereinigung der touristischen Hoteliers in Çeşme an der Ägais, berichtete von einer merklichen Zunahme der Hotelbuchungen entlang der türkischen Ägäisküste.
Andere verbrachten aus Angst die Nacht im Freien – in Parks, auf Grünstreifen oder auch in Autos, Schulhöfen, Turnhallen und Moscheen. Mehr als 101.000 Menschen suchten laut Innenministerium bisher Schutz in Notunterkünften. Deutsche Pauschaltouristen sind nach Einschätzung des Deutschen Reiseverbandes von der Situation kaum betroffen.
Rund 1,5 Millionen Gebäude gelten nicht als sicher
Zwar wurde in den vergangenen Jahren auch vor dem Hintergrund der verheerenden Erdbebenkatastrophe im Südosten des Landes 2023 Programme zur Erneuerung gefährdeter Gebäude vorangetrieben. Doch rund 1,5 Millionen Gebäude in Istanbul gelten als nicht sicher.
Hinzu kommt, dass die Stadt teilweise auf ungünstigem Untergrund liegt: Der südwestliche Teil etwa liegt nicht auf festem Grund wie das Viertel um den Taksim-Platz, sondern auf einer ausgetrockneten Lagune. Zudem ist Istanbul so dicht bebaut, dass es kaum Platz im Freien gibt. Teilweise grenzen – wie auf X zu sehen ist – ausgewiesene Versammlungsplätze an Bauzäune.
Kritik von abgesetztem Oberbürgermeister İmamoğlu
Der inhaftierte und abgesetzte Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu kritisierte die Regierung dafür, eine Erneuerung der Stadt versäumt zu haben. İmamoğlu gilt als aussichtsreichster Konkurrent Erdogans bei einer zukünftigen Wahl. Seine Verhaftung im Zusammenhang mit Terror- und Korruptionsvorwürfen wird als politisch motiviert eingestuft.
Bugra Kavuncu von der nationalkonservativen Oppositionspartei Iyi sagte im Parlament, die Menschen würden "in Särgen und nicht in Wohnungen" leben. Der politische Analyst Levent Gültekin kritisierte in seinem Youtube-Channel: "Wir warten auf das Erdbeben wie die Schafe auf die Schlacht." Angesichts der Kritik warnte Erdogan davor, das Beben für politische Zwecke auszunutzen. Solche Tage seien nicht dazu da, "Politik zu machen", sondern sich an die "Einheit und Brüderlichkeit" zu erinnern.
Mit Informationen von dpa
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!