Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Lärm, Armut, vor den Hospitälern der Geruch nach "Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst". So beschreibt Rainer Maria Rilke die Stadt in seinem Roman "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge". Für Rilkes Biograf Manfred Koch ein Schlüsselwerk: "Man sagt immer, es ist der erste moderne deutsche Großstadtroman. Aber es ist auch, was das Psychologische angeht, ein ungeheuer moderner Roman."
Das Motiv der Angst, das Rilke in seinem einzigen Roman nennt, macht Koch zum Leitmotiv seiner Biografie – ohne damit alles in eine einzige Deutung zu zwingen. Rilke wird 1875 im multikulturellen Prag geboren, sein Vater ein Bahnbeamter, der gern Offizier geworden wäre, seine Mutter eine Frau mit künstlerischen Ambitionen, enttäuscht von ihrer Ehe. Den Sohn verzärtelte sie, kleidete ihn als Mädchen, schickte ihn dann aber doch in die Kadettenanstalt – mit Rüschenwäsche im Gepäck.
Das Leiden gehört zum Selbstbild Rilkes
Erste Lyrikbände veröffentlichte Rilke schon als Schüler. In seinen frühen Versen ist viel von großem Gefühl die Rede, von Gott und Glaube – in reimseligen Rhythmen. Rilke selbst ging später mit dem, wie er es nannte, "Wolkigen" dieser Gedichte ins Gericht, ihrer "lyrischen Oberflächlichkeit", ihrem "billigen Ungefähr". Eine Zäsur war der erste Parisaufenthalt 1902, Rilkes persönliche Krise dort wird eines der beiden großen Themen im Malte-Roman. Das andere: ein Abarbeiten an den Schmerzen der Kindheit.
Die Jahre nach Abschluss des "Malte" seien "furchtbare Leidensjahre" gewesen, sagt Rilke-Biograf Manfred Koch. Jahre, in denen Rilke, so sehr er auch darum kämpfte, kaum etwas zum Abschluss bringen konnte. Natürlich gehörte das Leiden auch zum Selbstbild Rilkes, eine Psychoanalyse zu machen, hat er wiederholt ausdrücklich abgelehnt: Triebe man ihm seine Teufel aus, würden auch seine Engel verschreckt, eine "desinfizierte Seele" schien ihm keine poetische mehr zu sein.
Manfred Koch arbeitet das komplizierte Verhältnis des Dichters zu seinen Dämonen heraus, ohne sich Rilkes Selbstdeutung zu eigen zu machen. Den hohen Ton vermeidet er – und widersteht weitgehend auch der Versuchung, ein literarisches Werk allzu simpel zu psychologisieren. Seine Überlegung, Rilke könnte als Kind von seiner Mutter auch sexuell missbraucht worden sein, ist die Ausnahme einer spekulativen Ferndiagnose.
Nähe durch intensive Lektüre von Texten und Zeugnissen
Was Kochs Buch vor allem auszeichnet, ist die intensive Lektüre von Texten und Zeugnissen. Der Biograf steigt tief ein und leitet seine Interpretationen nachvollziehbar her, auch wenn man sie nicht immer teilen muss. Man kommt Rilke tatsächlich nahe, diesem literarischen Modernisten, der an der Moderne litt – und zeitlebens einen Hang zur Aristokratie hatte.
Als Zwanzigjähriger erdichtete er sich für den Eintrag in ein Literaturlexikon die Herkunft aus einem "uralten Kärntner Adelsgeschlecht", später fand er immer wieder reiche Gönnerinnen, die ihn zum Arbeiten auf ihren Schlössern wohnen ließen. Das berühmteste: Duino nicht weit von Triest, Besitz der Fürstin Marie von Thurn und Taxis. Dort findet Rilke 1912 einen neuen Ton: "Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel / Ordnungen?"
Was macht Dichtung aus?
Die "Duineser Elegien", vollendet erst in einem rauschhaften Februar zehn Jahre später. Die "Engel" dieses Spätwerks sind weit entfernt vom religiösen Schmelz der frühen Rilke-Dichtung, die Lust an Reim und Binnenreim ist verschwunden. Was aber geblieben ist und was Manfred Koch in seinem Buch an vielen Beispielen erkundet und betont: Hier arbeitet ein Dichter des Klangs. "Rilke ist ein Autor, der sich im Zweifelsfall immer für einen Klang entschieden hat."
Laut lesen sollte man Rilke deshalb, sagt Manfred Koch. Sein Porträt des Künstlers als bedrängter Mann ist auch die Skizze einer Poetik: Hier erzählt einer ein Dichterleben und geht der Frage nach, was Dichtung ausmacht. Man muss nicht Rilkeanerin sein, um sich von dieser Passion anstecken zu lassen. Ein beeindruckender Beitrag zum Rilke-Jahr.
Manfred Koch, "Rilke. Dichter der Angst. Eine Biografie", Verlag C.H.Beck, 560 Seiten, 34,00 Euro.
Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!
