"Das ist echte Subversion, eine klare Provokation von Prochanow. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ihm nun die meisten seiner Ehrentitel aberkannt werden, darunter auch der Titel ‚Held der Arbeit‘, den er persönlich von Präsident Putin erhalten hat", zitiert ein russisches Nachrichtenportal [externer Link] angebliche Kreml-Insider.
Die Präsidialverwaltung sei "entsetzt" über den Roman "Lemner" von Alexander Prochanow, in dem es um den Aufstieg und Fall des russischen Söldnerführers Jewgeni Prigoschin (1961 - 2023) geht, der seine Leute im Juni 2023 auf Moskau marschieren ließ, um mit dem damaligen Putin-Vertrauten und Verteidigungsminister Sergei Schoigu abzurechnen. Die Rebellion brach schnell in sich zusammen, Prigoschin und seine engsten Gefährten kamen im August des Jahres bei einem ungeklärten Flugzeugabsturz ums Leben.
"Bisse der Blutegel sanft wie Küsse"
Der 87-jährige Schriftsteller und rechtsextremistische Nationalist Prochanow rühmt in seiner bizarren Polit-Satire [externer Link] den Söldnerführer als "unglaublich und einzigartig" und begründete seine Einschätzung auf seinem Telegram-Kanal so: "Meiner Meinung nach hatte er Angst vor dem, was er tat. Es war nicht sein eigener Wille, dies zu tun; er wurde vom bösen, mysteriösen Willen der russischen Geschichte getrieben."
Über den fiktiven russischen Präsidenten Leonid Trojewidow heißt es bei Prochanow: "Einmal im Monat verjüngte er sich, indem er sein Blut komplett austauschte. Aus Peking war ihm eine Porzellan-Vase mit rosa Blutegeln geschickt worden. Diese Blutegel waren mit dem Blut chinesischer Jungfrauen gespeist worden. Die Blutegel saugten sich an seinen Körper, nahmen sein müdes Blut auf und versorgten ihn im Gegenzug mit jungfräulicher Frische. Die Bisse der rosa Blutegel waren so sanft wie Küsse."
Putin spekulierte über Verjüngungsmethoden
Diese Passage sorgte für viel Aufsehen, weil in Russland seit Jahren Gerüchte umgehen [externer Link], Putin schwöre auf solche Frischzellenkuren und nehme Bäder mit "Hirschgeweih-Extrakt". Das Interesse des Präsidenten für Verjüngungsmethoden aller Art machte kürzlich Schlagzeilen, weil er sich mit dem chinesischen Amtskollegen Xi Jinping darüber ausgetauscht hatte.
Das Aufsehen um Prochanows zeitgeschichtlichen Enthüllungs-Roman "Lemner" ist daher groß. Eine Buchpräsentation in Moskau wurde aus unbekannten Gründen abgesagt, in den sozialen Medien wird behauptet, das Werk sei derzeit nicht verfügbar bzw. "ausverkauft".
Prochanow: "Höhepunkt der russischen Geschichte"
Prochanow selbst beschwerte sich [externer Link], "liberale Köpfe" in aller Welt rissen Roman-Zitate aus dem Zusammenhang, um Skandal zu machen: "Sie wollen das Buch als Druckmittel gegen die Behörden einsetzen. Ob sich 'Lemner' in einen zweiten 'Doktor Schiwago' verwandeln wird [systemkritischer Romanklassiker von Boris Pasternak], wage ich nicht zu beurteilen."
Rechte und rechtsextreme Kommentatoren zeigten sich begeistert von Prochanows Spätwerk. Journalist Maxim Schewtschenko verglich den Roman [externer Link] gar mit Maxim Gorkis epochemachendem Roman "Die Mutter" von 1907, wo es um einen jungen Revolutionär geht, der das proletarische Bewusstsein seiner Verwandtschaft prägt.
Der Kreml-Propagandist und "Philosoph" Alexander Dugin lobte [externer Link]: "Der Roman ist scharf, beißend, manchmal beängstigend und prophetisch. Nur wenige Menschen verstehen das russische Volk und die Strömungen der russischen Geschichte so tief und klar wie Alexander Prochanow."
Peter Jungblut
Die tonangebende russische "Literaturzeitung" schrieb dagegen [externer Link] über den Roman: "Die Präsentation des Materials wirkt wie eine Art Anklage gegen unsere Politiker. Alexander Prochanow lässt sie wie groteske Großmäuler und vulgäre Angeber erscheinen, die nichts anderes tun, als Frauen hinterherzujagen, oder sich mit Wahrsagerei und Zauberei zu beschäftigen. Und natürlich verherrlichen sie sklavisch Europa."
"Wurmstichige Helden"
Die Literaturkritikerin Galina Jusefowitsch meinte [externer Link], Liberale und Ultrapatrioten säßen in einem Boot, wenn es um Zensur gehe: "Einige, das stimmt (Alexander Prochanow war einer der Ersten), sprangen voller Freude in dieses Boot und dachten, sie würden dort Kapitän, während Gold aus der Spitze ihrer rosafarbenen Brabanter Manschetten strömt."
Fernsehkorrespondent Dimitri Steschin schrieb [externer Link], Bitterkeit und Verärgerung über unerfüllte Sehnsüchte prägten den Roman des 87-jährigen: "Lenin im Herzen und Christus in der Seele haben nie einen gemeinsamen Nenner gefunden, sondern sich über die Jahrhunderte hinweg nur halbherzig gestritten. Asche, Verfall, Hoffnungslosigkeit, wurmstichige Helden."
Putins Nachfolger: "Ein ruhiger, grauer Spatz"
Blogger Oleg Kaschin bedauerte [externer Link], dass Prochanow sein Buch nicht im Ausland veröffentlichte, wo es seiner Meinung nach deutlich mehr Wirbel erzeugt hätte: "Im heutigen Russland kann man so nicht über Putin schreiben, oder über den Krieg, oder über Sex."
In einem Interview mit dem Portal "RTVI" [externer Link] verriet Prochanow übrigens, wer seiner Ansicht nach Putins Nachfolger wird, nämlich der "Unauffälligste und Farbloseste": "Wir müssen uns ansehen, welcher unter unseren Fasanen und Pfauen ein ruhiger, grauer Spatz ist."
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