Der russische Parlamentspräsident Wjatscheslaw Wolodin verstörte seine Landsleute mit der Behauptung [externer Link], "immer mehr Menschen aus europäischen Ländern" wanderten nach Russland aus. Monatlich würden 150 entsprechende Einreise-Anträge gestellt. Einer der wichtigsten Gründe dafür sei die Meinungsfreiheit, behauptete Wolodin ungeachtet der stetig verschärften Netz-Zensur.
"Wen wollen die in der Duma eigentlich zum Narren halten?"
Politologe Andrei Kalitin nahm diese bemerkenswerte Wortmeldung zum Anlass, darauf hinzuweisen [externer Link], dass Russland auf der internationalen Rangliste der Meinungsfreiheit aktuell auf Platz 151 steht, zwischen Kuba und Tadschikistan (Deutschland belegt dort Platz 25): "Bei diesem Tempo werden in einer Million Tagen ein Prozent der Europäer nach Russland ausgewandert sein. Das sind 2.740 Jahre. Wen wollen die im Parlament eigentlich zum Narren halten? Sich selbst."
Die vielen Denk- und Sprechverbote führten in Russland ähnlich wie in der Sowjetunion der 1980er Jahren zu technologischer Rückständigkeit und "kultureller, wissenschaftlicher und intellektueller Stagnation".
Putin hofft auf "positives Bild"
Mit seiner befremdlichen Sicht auf den Zustand der Meinungsfreiheit in Russland steht Wolodin allerdings keineswegs allein da. Auch Walentina Matwijenko, die Präsidentin des russischen Föderationsrats, der zweiten Parlamentskammer, äußerte sich kürzlich in einem Interview [externer Link] mit der auflagenstarken "Moskowski Komsomolez" ähnlich: "In Russland herrscht Meinungsfreiheit. Wer sich jedoch am Rande des Extremismus bewegt oder diesen gar überschreitet, muss die Konsequenzen tragen." Die EU sei dagegen eine "regelrechte Diktatur".
Matwijenko habe damit bestätigt, dass sie in einem gänzlich "anderen" Russland lebe, so einer ihrer inländischen Kritiker [externer Link]: "In einem Land, in dem die Menschen ihre Meinung offen äußern können, zuversichtlich in die Zukunft blicken und repressive Gesetze eine Seltenheit sind."
Putin unterschrieb unterdessen ein Dekret über die "Nationale Strategie bis zum Jahr 2036" [externer Link], wonach die Weltgemeinschaft Russland in zehn Jahren für ein "demokratisches und rechtsstaatliches Land" halten und 95 Prozent der Einwohner ein "patriotisches Bewusstsein" mit einem "positiven Bild" von Russland entwickeln sollen.
"Nicht heroisch, sondern absurd"
Eines der mit 413.000 Fans größten russischen Polit-Portale bewertet den Zustand der Meinungsfreiheit völlig anders [externer Link]: Strenge Einschränkungen von Protestaktivitäten und die Verschärfung der Zensur seien "zu unumkehrbaren Bestandteilen des Systems geworden". Auch nach einem Ende des Kriegs sei damit zu rechnen, dass der Kreml die "Mentalität wie in einer belagerten Festung" beibehalten werde: "Die Bürger werden darauf vorbereitet, dass die Gefahr neuer Konflikte fortbesteht."
Peter Jungblut
Dazu bemerkte Publizist Juri Dolgoruki [externer Link, 73.000 Abonnenten]: "Eine 'belagerte Festung' ohne Belagerung wirkt nicht heroisch, sondern absurd. Sie trägt nicht mehr zur Mobilisierung bei, sondern nur noch zu stumpfer Irritation. Man kann nur hoffen, dass die Machthaber noch nicht so sehr auf den Krieg fixiert sind, dass sie solche offenkundigen Dinge nicht mehr verstehen."
"Dreck gab es schon immer"
Politologe Konstantin Kalaschew wählte einen skurrilen historischen Vergleich [externer Link], um das Verhältnis des Kremls zur Meinungsfreiheit zu illustrieren. Georg Cancrin (1774 - 1845), der deutschstämmige Finanzminister von Zar Nikolaus I., sei einst gegen die Modernisierung der russischen Infrastruktur gewesen, weil neue Straßen nur potentiellen Invasoren wie Napoleon nutzten: "Heute spielt das Internet die Rolle von Chausseen, über die feindliche Ausländer ins Land drängen."
Blogger Pawel Prianikow (120.000 Fans) fügte an [externer Link]: "Jegliche Einschränkungen des Internets sind vergleichbar mit einem Verbot der Dampfmaschine im entsprechenden wissenschaftlich-technologischen Fortschrittszyklus oder des Verbrennungsmotors im Öl- und Gaszeitalter. Mit anderen Worten: ein freiwilliger Stopp des Fortschritts im Land."
Ein noch herberes Sinnbild für das Putin-Regime wählte Publizist Georgi Jans: "Dreck gab es schon immer, meist ganz unten. Dort türmte er sich auf, immer bereit, an die Oberfläche zu quellen. Aber um dorthin zu gelangen, musste er auf ein Signal von oben warten. Sind die da oben darauf vorbereitet, den Gestank auszuhalten? Das Signal kam. Manche badeten darin und atmeten den Geruch tief ein."
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