(Archivbild) Der russische Präsident mit Sicherheitskräften im Gespräch mit Passanten
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(Archivbild) Bad in der Menge: Putin in St. Petersburg
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"Krieg im Kopf": Hat Putin Russlands Gesellschaft brutalisiert?

"Krieg im Kopf": Hat Putin Russlands Gesellschaft brutalisiert?

Russische Politologen und Kommentatoren beklagen eine zunehmende Verrohung der Gesellschaft, die Fähigkeit zur Anteilnahme sei "unter Null" gesunken, "infantile" Menschen von Propaganda "verblödet". Ihr Fazit: "Niemand kann sich mehr sicher fühlen."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Bleibt nicht gleichgültig, wenn ihr seht, dass jemand anderes in Schwierigkeiten steckt", flehte kürzlich die russische Polit-Bloggerin und TV-Journalistin Xenija Sobtschak (1,1 Millionen Abonnenten) auf ihrem Telegram-Kanal [externer Link]. Grund dafür: Fünf Männer hatten in der Region Woronesch eine Frau gewaltsam in ein Auto verschleppt und waren davongefahren, ohne dass die Augenzeugen irgendetwas unternommen hätten.

"Empathie sank auf negative Werte"

Politologe Georgi Bovt nahm den Vorfall zum Anlass für eine sehr kritische Bestandsaufnahme der russischen (Kriegs-)Gesellschaft [externer Link]: "Empathie ist bei uns nicht gleich Null, sie sank auf negative Werte. Wenn sie jemanden töten, bedeutet das, dass sie das Recht dazu haben, dass sie irgendwie cool sind und man sich besser nicht mit ihnen anlegen sollte."

Der Durchschnittsbürger rufe die Polizei nicht nur nicht, weil es ihm gleichgültig sei, weil er Angst habe, sondern auch, weil er nicht glaube, dass sie komme, wenn sie alarmiert werde: "Keiner glaubt, dass er geschützt wird."

"Betrug von epischen Ausmaßen"

Ähnlich sieht es der Exil-Politologe Abbas Galljamow [externer Link], früher Redenschreiber im Kreml: "Im heutigen Russland kann sich niemand mehr sicher fühlen – weder ein unglückliches Schulkind noch ein allmächtiger Minister. Jetzt ist es an der Zeit, sich daran zu erinnern, dass der wichtigste Wahlkampf-Slogan, der Putin vor einem Vierteljahrhundert an die Macht brachte, genau das Verlangen nach Sicherheit war. Darin liegt die Dialektik – vom Versprechen der Sicherheit bis zu ihrer vollständigen Beseitigung. Ein Betrug von schlichtweg epischen Ausmaßen."

"Sie tragen den Krieg im Kopf"

Der russische Kulturwissenschaftler Jewgeni Dobrenko, der an der Universität Venedig lehrt, rechnete in einer aufschlussreichen Analyse mit seinen Landsleuten förmlich ab [externer Link] und machte sie mitverantwortlich für die politische und soziale Verrohung: "Blutige Regime, bösartige Diktatoren und verblödende Propaganda sind nur eine Ausdrucksform, durch die sich die Frustration riesiger Massen infantiler Menschen bemerkbar macht, die in einer traditionellen Gesellschaft aufgewachsen sind."

Die Demokratisierung der neunziger Jahre habe diese Menschen plötzlich "zu politischen Akteuren gemacht", obwohl sie mit ihrer "schlechten Ausbildung", und ihren "patriarchalischen Werten" auf ihre neue gesellschaftliche Rolle unvorbereitet gewesen seien: "Sie sind von Gewalt durchdrungen und rassistischen, ethnischen, geschlechtsspezifischen und anderen Vorurteilen besessen. Einer Kultur des Dialogs und der Toleranz unfähig, tragen sie den Krieg im Kopf und fordern daher solche Führer und solche Regime."

"Russen kennen Gefühl der Ruhe nicht"

Sogar ein staatstragender Politologe wie Ilja Graschtschenkow forderte mit Blick auf neueste Umfrageergebnisse [externer Link]: "Wenn die Hälfte der Bevölkerung des Landes auf die eine oder andere Weise unter ständiger Angst leidet, muss der Staat ihnen zumindest etwas Erleichterung verschaffen oder ihnen 'Licht am Ende des Tunnels' zeigen."

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Peter Jungblut

Von unterschwelliger Aggression vieler Russen und ihrer Neigung zur Gleichgültigkeit spricht auch der Moskauer Blogger Juri Dolgoruki [externer Link]: "Russen kennen das Gefühl der Ruhe, der selbstbewussten Zufriedenheit mit dem Leben im eigenen Land nicht, das sich allein durch die Tatsache, hier geboren zu sein, in ein lebhaftes Gefühl der Freude verwandelt."

Wenn überhaupt, seien Russen stolz auf sowjetische "Errungenschaften" wie das Kalaschnikow-Sturmgewehr: "Worauf kann man sonst stolz sein, wenn die Müllcontainer eine Woche lang überfüllt sind und die Preise in den Geschäften explodieren?"

"Putin hat einfach selbst Angst"

Der staatliche Terror gehe mangels Opposition inzwischen dazu über, die eigene Elite "zu verzehren", argumentiert Politologe Anatoli Nesmijan [externer Link]: "Die Sicherheitskräfte, die bei unmittelbarer Gewalt im Vorteil sind, mähen Beamte nieder und lösen gleichzeitig Probleme des internen Wettbewerbs."

Einer der viel zitierten anonymen Polit-Blogger erklärte die Brutalisierung mit der originellen These [externer Link]: "Der Grund ist nicht, dass die Sicherheitsdienste die Fronten durcheinanderbrächten. Putin hat einfach selbst Angst vor Nationalisten. Denn anders als pflanzenfressende Liberale haben sie Waffen, den Wunsch, sie einzusetzen und die Überzeugung, selbst absolut richtig zu handeln. [Der verstorbene Söldnerchef] Prigoschin hat es bewiesen."

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