Oft hilft nur noch das Abschirmen von Geräuschen mit Kopfhörern: Christoph leidet an Misophonie.
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Oft hilft nur noch das Abschirmen von Geräuschen mit Kopfhörern: Christoph leidet an Misophonie.
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Oft hilft nur noch das Abschirmen von Geräuschen mit Kopfhörern: Christoph leidet an Misophonie.

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Misophonie: Wenn Alltagsgeräusche zur Qual werden

Misophonie: Wenn Alltagsgeräusche zur Qual werden

Schmatzen, Kauen oder Schlürfen: Menschen mit Misophonie bereiten vor allem Essensgeräusche Schmerzen, Stress und Wut. Offiziell ist Misophonie keine anerkannte Krankheit. Wie gehen Betroffene damit um?

Über dieses Thema berichtet: STATIONEN am .

Christoph leidet seit seiner Kindheit an Misophonie. Das heißt: Manche Alltagsgeräusche triggern ihn. Essensgeräusche und das Schlurfen von Schuhen am Boden lösen bei ihm extremen Stress und körperliche Schmerzen aus. Bei anderen Betroffenen können es auch Räuspern, Schniefen oder Atemgeräusche sein.

Ein Biss in die Breze: "Ich fühle mich körperlich bedroht"

Für den 37-Jährigen sind selbstverständliche Dinge wie Zugfahrten eine große Herausforderung. Denn überall lauern Reize, die er nicht erträgt. "Bevor ich in einen Zug einsteige, schaue ich erst einmal durch alle Fenster, wo möglichst wenig Bäckertüten auf den Tischen liegen." Das Rascheln von Verpackungen ist wie eine Art Vorankündigung für ihn, das Geräusch versetzt seinen Körper in Alarm-Modus, erzählt er. "Es fühlt sich an, als würde mich jemand körperlich bedrohen und im nächsten Moment angreifen - nur mit einem Biss in eine Breze."

Eine Flut von Reizen rollt täglich auf Misophonie-Betroffene zu

Geräusche, die die meisten gar nicht wahrnehmen, können für ihn zum Horror werden. Christoph hat gelernt, seine Wut im Zaum zu halten. Das Einzige, was ihm hilft, ist die Flucht. Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung, Musik oder Meeresrauschen.

Misophonie wird mit dem Älterwerden immer schlimmer und bestimmt den Alltag der Betroffenen. Denn überall wird mit Schuhen über den Boden geschlurft oder beim Essen geschmatzt. Christoph musste sogar seinen Job wechseln, weil die Kollegen am Schreibtisch gegessen haben. Bei seiner heutigen Arbeit in der Logistik einer Supermarkt-Kette ist das zum Glück nicht erlaubt. Bummeln durch die Stadt, Freunde treffen im Café oder ein Kinobesuch – all das ist für ihn kaum machbar. Christoph fühlt sich oft isoliert. Bis vor kurzem hat er niemandem von seinem Problem erzählt, sich sogar geschämt und schuldig gefühlt.

Misophonie: eine schambehaftete Krankheit

Experten sehen mögliche Ursachen der Misophonie in Veranlagungen im Gehirn und in den Genen. Aber auch negative Kindheitserlebnisse könnten eine Rolle spielen. Christoph erinnert sich: "Diese Situation zu Hause am Esstisch, da gab es diesen typischen Satz: 'Alle bleiben sitzen bis aufgegessen ist.' Gerade wenn man sich am Esstisch gestritten hatte, war danach Ruhe. Und das Einzige, was durch den Raum geschallt ist, waren die Geräusche vom Essen."

Misophonie tritt nur bei wenigen Menschen auf und ist als Krankheit von den Krankenkassen noch nicht anerkannt. Eine Heilung gibt es bislang nicht, nach Therapien wird noch geforscht. Eine Psychotherapie vor drei Jahren hat bei Christoph nichts verbessert. Ihm helfen nur seine Kopfhörer und der Rückzug. Christoph ist gerade zum dritten Mal Vater geworden. Mit seinen eigenen Kindern fallen ihm gemeinsame Mahlzeiten schwer. Wenn seine älteren Kinder essen, muss er den Raum verlassen. Heute spricht Christoph offen über seine Misophonie. Er will das Problem bekannter machen, damit andere Betroffene Hilfe und Verständnis bekommen.

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