Ist das wirklich ein "Meilenstein", der "ersehnte Durchbruch" oder gar der "Sieg für Russland", wie es russische Propagandisten darstellen [externer Link]? Alexej Miller, Chef des russischen Energieriesen Gazprom, kündigte den Bau einer neuen Pipeline von Russland nach China an, um die weggebrochenen Einnahmen aus Europa teilweise zu ersetzen, doch die Finanzierung des Projekts, das auf rund 14 Milliarden Euro geschätzt wird, blieb weitgehend offen – und die in China erzielbaren Gas-Preise ebenfalls.
Einerseits benötigt Putin dringend Geld für den kriselnden Staatshaushalt, wo jeder zweite Rubel inzwischen für den Krieg ausgegeben wird, andererseits sieht er sich gezwungen, potentiellen Gas- und Öl-Abnehmern wie Indien und China hohe Rabatte einzuräumen. Entsprechend skeptisch sind russische Beobachter.
"Offiziell wird dies als strategischer Sieg und Hinwendung zum Osten dargestellt", so einer der mit 140.000 Fans viel gelesenen anonymen russischen Polit-Blogger [externer Link]: "Entscheidend ist jedoch, dass der Rohstoffpreis niedriger sein wird als in Europa. Im Grunde spiegelt das die neuen Realitäten wider: Nach dem Verlust des europäischen Premiummarktes ist Russland gezwungen, den Bedingungen des einzigen verbliebenen Großabnehmers zuzustimmen, der nun alle Trümpfe in der Hand hält."
"Mehr Fragen als Antworten"
Selbst der Kolumnist des russischen Wirtschaftsblatts "Kommersant", Dmitri Drise, konnte sich eine Prise Ironie nicht verkneifen [externer Link]: "Was die 'leidvolle Kraft-Sibiriens-2' betrifft, den zweiten Strang der Gaspipeline von Russland nach China, gibt es wie immer mehr Fragen als Antworten. Tatsächlich ist die Hauptfrage, wer dieses 'Fest der russisch-chinesischen Freundschaft' bezahlen wird. Es sieht nach Gazprom aus. Und das mit einem Nettoverlust von einer Billion Rubel [etwa 11 Milliarden Euro] im vergangenen Jahr. Aber vielleicht wissen wir noch nicht alles, und bei uns ist alles wieder mal 'wunderbar und erstaunlich'."
Auch Kriegsblogger Oleg Zarow (395.000 Fans) ist wenig zuversichtlich [externer Link]: "Es bleibt zu hoffen, dass Gazprom mit diesem Projekt die negativen Trends der letzten Zeit umkehren und weiterhin Gewinne erzielen kann."
"Stilles Dahinsiechen in frostigen Ebenen"
Andere russische "Patrioten" zeigten sich regelrecht aufgebracht [externer Link], weil Russland zwischen den USA und China aufgerieben werde, was der Verlust der Gaslieferungen nach Europa und "Sibirien-2" bewiesen: "Je länger diese Selbstverdrängung aus der eurasischen Geschichte, aus der europäischen Kultur andauert, je länger der Krieg andauert, desto unumkehrbarer wird das Schicksal eines stillen Dahinsiechens in den frostigen Ebenen Nord-Eurasiens in diesem Jahrhundert sein. Der Narr hört nicht. Der Narr ist stur. Was für einen schweren Kater wird das Land haben!"
Peter Jungblut
Auch der kremlkritische Journalist Andrei Kalitin bezweifelt, dass sich Putin einen Gefallen tut, wenn er sich wegen des Angriffskrieges auf die Ukraine unvermittelt vom Westen nach Osten wendet: "Der Westen hat verstanden, dass man Russlands Aussagen nicht trauen kann. Aber ist man im Osten bereit, ihnen Glauben zu schenken? Wenn ein riesiger Nachbarstaat, der über Atomwaffen verfügt, plötzlich einen 'Rittersprung' macht und eine 180-Grad-Wende vollführt, ist das nicht immer ein Feiertag. Das ist eine alarmierende Tatsache."
"Deutlich höhere Kosten"
In einem der tonangebenden russischen Wirtschaftsblogs heißt es entsprechend kühl [externer Link]: "Eine wichtige Frage ist, woher Gazprom, das sich derzeit in einer schwierigen Lage befindet, das Geld für den Bau der Pipeline nehmen wird. Auch die technische Unterstützung, die bislang weitgehend auf westlicher Technologie basierte, ist fraglich."
Zwar werde damit die "strategische Bindung Russlands an China" gestärkt, doch selbst, wenn das Projekt realisiert werde, könne Russland damit allenfalls die Hälfte der Gaslieferungen in Richtung Europa kompensieren, und zwar zu deutlich höheren Kosten.
Politologe Andrei Nikulin verwies darauf [externer Link], dass das Projekt von russischer Seite lauthals beschworen werde, während Peking bisher zurückhaltend sei: "Selbst wenn ein Wunder geschieht und alle Vereinbarungen morgen unterzeichnet würden, werden der Bau, die Erprobung und der Beginn der kommerziellen Lieferungen noch viele Jahre dauern."
"Ausgaben sind beste Option"
Letztlich gebe es in Russland mangels anderer Perspektiven leider gar keine Alternativen zu "Kraft-Sibiriens-2", spottete ein weiterer Beobachter [externer Link]: "Alles, was nicht bereits im Haushalt verplant ist oder bereits ausgegeben wurde, könnte andernfalls in der Inflation verbrennen, in den ukrainischen Steppen verrosten, für existenzielle und geopolitische Zwecke verschwendet oder von den zahlreichen Spezialisten für die patriotische Erziehung von Bärtierchen veruntreut werden."
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