Yann Tiersen wurde mit Filmmusiken wie "die Fabelhafte Welt der Amelie" und "Good Bye, Lenin!" in den frühen 2000ern berühmt – aber nicht glücklich. Heute lebt der Bretone zurückgezogen auf der Atlantik-Insel Ouessant, hadert mit seinem Image und gibt kaum noch Interviews. Zur Veröffentlichung seines neuen Albums "Rathlin From A Distance/ The Liquid Hour" macht er allerdings eine Ausnahme.
"Ich bin kein Komponist," erzählt er im Interview mit dem BR. "Und ich komme nicht aus der Klassik oder Neo-Klassik, sondern dem Post-Punk. Ich bin beeinflusst von 'Einstürzende Neubauten', 'Neu!' und dem Minimalismus eines Steve Reich."
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"Amelie" als Fluch
Tiersen fühlt sich missverstanden und reduziert auf seinen Soundtrack zu "Die fabelhafte Welt der Amelie". Ein Blockbuster, der 140 Millionen Dollar eingespielt hat – aber fast 25 Jahre zurückliegt. Für den sensiblen Künstler ein Fluch, der nie zu enden scheint. Obwohl Tiersen 14 Solo-Alben veröffentlicht hat und sich längst auf anderem musikalischen Terrain bewegt. Das lässt den Mann aus Brest verzweifeln.
Der Film sei ihm zu süß: "Eine langweilige Schnulze aus dem alten Paris – dabei bevorzuge ich das neue, Multikulturelle." Am meisten störe ihn aber, dass sein Werk "komplett Sinn-entfremdet" wurde: "Ich habe meinen Vater verloren als ich sieben war – und Musik wurde zur Zuflucht und Therapie. Deshalb hat sie mit Schmerz zu tun. Und sie in dem Film zu hören, tut geradezu weh. Weil er ein solcher Erfolg war, muss ich nun damit klarkommen, dass meine Musik als romantisch verstanden wird."
Doppelalbum aus zwei Gegensätzen
Das Doppel-Album "Rathlin From A Distance/ The Liquid Hour" ist ein weiterer Versuch, sich von "Amelie" zu lösen. Mit anspruchsvollen 80 Minuten Musik: "Rathlin From A Distance", die erste Hälfte, besteht aus minimalistischen Klavier-Stücken. Teil 2, "The Liquid Hour", aus sphärischen Klangcollagen zwischen Ambient, EBM und Industrial.
"Ich wollte, dass beide Teile extrem minimal und maximal ausfallen – wie klaffende Gegensätze. Für das Maximale habe ich eine Ondioline gekauft, ein elektronisches Instrument aus den 1930er Jahren. Außerdem ein Ondes Martenot, das genauso alt ist." Das Ganze solle wie eine verrückte Marschmusikkapelle klingen.
Musik gegen den Rechtsruck
Die Marschmusikkapelle kommt nicht von ungefähr: Tiersen versteht "The Liquid Hour" als Protestmusik gegen den Front National von Marine Le Pen. Den bekämpft er mit Kompositionen wie "Dolores", einer Hommage an die Antifaschistin Dolores Ibárruri und ihre Rede "No pasarán – Sie kommen nicht durch", in der sie 1936 über Radio Madrid zur Verteidigung der Demokratie aufrief.
Diese Rede sei 2025 genauso wichtig wie 1936, sagt Tiersen. "Als die Ultra-Rechten bei der letzten Wahl kurz vor dem Sieg standen, habe ich die Rede von Dolores aufgegriffen, weil ich sie so stark finde." Für ihn sei Le Pen wie der letzte Aufstand der Dinosaurier: "Sie haben Angst vor dem Asteroiden – aber Geld und Macht. Es ist wichtig, etwas dagegen zu tun, etwa mit Protesten."
"Rathlin From A Distance/ The Liquid Hour" ist das bislang politischste Album in Tiersens Karriere – und es entfernt sich immer weiter von "Amelie". Möge er damit glücklich werden.
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