"Wir suchen keine einfachen Wege, und das ist traurig", seufzte Politologe Andrei Nikulin und bedauerte [externer Link], dass Russland leider nur in einer "parallelen Realität" mit dem Westen Freihandel treibt und prosperiert.
"Gerade jetzt bietet Donald Trump genau das an, wofür die russischen Politiker all die Jahre 'aktiv gekämpft' haben – eine würdige Rückkehr in die westliche Welt, Respekt und lebhafte wirtschaftliche Zusammenarbeit. Wahrscheinlich noch nicht in dem Maße, wie wir es uns wünschen, aber immerhin angepasst an die aktuellen Ereignisse – und das ist schon viel", so Dmitri Drise [externer Link], der Kolumnist des russischen Wirtschaftsblatts "Kommersant". Doch Putin verweigere sich und setze lieber auf eine "Allianz mit China".
"Es herrscht nur kalte Berechnung"
Daher fragt Drise sich und seine Leser, ob Russland "zumindest theoretisch" jemals wieder "in die westliche Welt zurückkehren" könne. Die russischen Eliten wollten dies wirklich: "Natürlich ist es in den [arabischen] Emiraten gut, aber in [dem französischen Wintersportort] Courchevel ist es besser und in Miami auch. Chinesische Autos sind natürlich komfortabel, aber Mercedes-Limousinen wurden nicht aufgegeben. Inzwischen scheint die Scheidung endgültig zu sein. Trump hofft jedoch noch."
Politikwissenschaftler Andrei Kalitin hatte Russlands Verhalten bereits Anfang September mit dem portugiesischen Mittelfeldspieler Luis Figo verglichen [externer Link], der im Jahr 2000 vom FC Barcelona zu Real Madrid wechselte, damals jedoch von den Fans beider Clubs angefeindet worden sei: "Der Kurs Richtung Multipolarität und Russlands Anspruch auf die Führungsrolle des 'globalen Südens' haben seine Nachbarn im Süden sehr misstrauisch gemacht. Es herrscht nur kalte Berechnung."
"Geographie und Mentalität forderten Tribut"
Ein weiterer Politologe sprach von einer "Anomalie" [externer Link], weil Russland ein zutiefst europäischer Staat bleibe. Es habe anders als China oder die arabischen Emirate gar kein Alternativkonzept zum Westen, sondern ärgere sich lediglich wie ein junger Rebell über die Regeln der Älteren.
Alle früheren russischen Machthaber seien bei dieser Revolte gescheitert, argumentiert einer der Kommentatoren: "Mit unterschiedlicher Härte versuchten Alexander Newski, Zar Iwan der Schreckliche, die frühe bolschewistische Regierung, Stalin in der Nachkriegszeit und eine Reihe anderer Führer das Land abzuschotten. Doch dann forderten die Geographie und die Mentalität ihren Tribut und sie begannen erneut, ein 'Fenster' nach Europa zu öffnen."
"Nicht nach fremden Regeln spielen"
Der kremlnahe Polit-Blogger Juri Dolgoruki fühlt sich dagegen durch die Debatte an ein "Kinderspiel" erinnert [externer Link], bei dem sich Russland zwischen zwei Seiten entscheiden müsse, um nicht "als stolzer und einsamer Außenseiter dazustehen". Dabei könne der Kreml nicht gewinnen: "Diese Haltung ist per Definition eine Verliererposition, da sie von vornherein die Führung eines anderen anerkennt und ihm das Recht einräumt, die Regeln festzulegen, nach denen man überhaupt 'mitmachen' kann."
Peter Jungblut
Die Stärke Russlands habe schon immer darin gelegen, "komplex, unbequem, für Außenstehende unverständlich, aber autark" zu sein: "Auf fremdem Spielfeld nach fremden Regeln zu spielen, ist zum Scheitern verurteilt. Es ist viel produktiver, unsere eigenen aufzubauen."
"Berauschende Luft des Westens"
Kommentator Dmitri Sewrjukow verweist darauf [externer Link], dass im vergangenen Jahr ungeachtet der Sanktionen und des Kriegs knapp 600.000 Russen in den Westen gereist seien, um dort "berauschende Luft" einzuatmen.
Es werde Urlaub gemacht, eingekauft oder medizinische Behandlung gesucht: "Die Tatsache, dass die Eliten und der noch nicht verarmte Teil der Mittelschicht auch nach dreieinhalb Jahren Konflikt und einer Hinwendung zum Osten ihre Orientierung am Westen beibehalten, zeugt von der Ernsthaftigkeit der inneren Prozesse, die sich im Land unsichtbar abspielen. Diese Prozesse, deren Indikator die Zahl der ausgestellten Schengen-Visa ist, werden die langfristigen Aussichten des Landes bestimmen."
"Aus allen Positionen und Märkten verdrängt"
Einem mit 622.000 Fans sehr einflussreichen anonymem Telegram-Kanal zufolge [externer Link] kann es dagegen keine "Hinwendung zum Westen" mehr geben, weil der Krieg neue Tatsachen geschaffen habe: "Während Russland seit vier Jahren um Waldgebiete und Ackerflächen kämpft, wird es aus allen Positionen und Märkten verdrängt. Die USA erwarten insbesondere, die russischen Gaslieferungen nach Europa zu ersetzen, den Kontinent mit Öl zu beliefern und Atomreaktoren zu bauen. Und Russland hat faktisch nichts anderes zu bieten."
Daher werde Putin am Ende wie der "Fischer und seine Frau" aus dem bekannten Märchen der Brüder Grimm vor dem Nichts stehen.
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