"Es gibt zwar bisher keine formellen Verbote, über die Repressionen der Stalin-Ära zu sprechen, wie Gesprächspartner jedoch anmerken, entstehen solche Beschränkungen 'natürlicher Weise' – unter dem Einfluss der allgemeinen politischen Lage", ist in einem der mit 410.000 Fans größten russischen Telegram-Kanäle zu lesen [externer Link]. Jeder, der über Stalins blutige "Säuberungen" spreche, gehe inzwischen ein "gewisses Risiko" ein: "Unter der strengen Zensur wird jede Diskussion über Stalins Diktatur und die damit verbundenen Repressionen sehr schnell in einen Zusammenhang mit der aktuellen Politik gebracht."
Daher bemühten sich die russischen Behörden, "unnötige Analogien und Aufmerksamkeit" für das Thema zu unterbinden: "Kritik an Stalin und dessen Repressionen sind heute zwar nicht verboten, aber man kann auch nicht mehr sagen, dass sie völlig erlaubt sind." Gouverneure redeten sich mit dem Hinweis raus, Stalin sei kein "aktuelles" Thema. Das stimme allerdings so nicht, denn in immer mehr russischen Städten werde über die Aufstellung neuer Stalin-Büsten diskutiert, zuletzt in Jekaterinburg.
"Im Einklang mit dem Kurs Putins"
Nukri Kawleischwili, einer der dortigen Initiatoren, begründete seine Haltung so [externer Link]: "Heute brauchen wir mehr denn je das Vorbild Stalins – eines Mannes von unbeugsamem Willen, erfüllt von Liebe zu seinem Vaterland. Sein Standbild sollte uns daran erinnern, wie wichtig es ist, Korruption und Beamte, die sich auf Kosten des Volkes bereichern, zu bekämpfen. Wir müssen denen den Kampf erklären, die Russlands Niederlage wünschen. Und damit steht unsere Initiative voll und ganz im Einklang mit dem Kurs unseres Präsidenten Wladimir Putin, die Souveränität zu stärken und innere Bedrohungen zu bekämpfen."
"Schweigen ist die einzig sichere Strategie"
Politologe Ilja Graschtschenkow argumentierte [externer Link], es gebe in Russland einen "systematischen Wandel in der Erinnerungspolitik", womit die Debatte über Stalins Unterdrückungspolitik quasi automatisch eingeschränkt werde. Der Experte bezeichnete das als einen "subtilen und besonders wirksamen Zensurmechanismus". Der Behördenapparat sei hellhörig, wenn es um unausgesprochene Vorgaben von oben gehe: "Die Aufgabe ist es, Fehler zu vermeiden, weshalb Schweigen oft die beste Lösung ist. Genau darum geht es bei vorbeugender Selbstzensur. Warum sollte man ein Thema riskieren, das nicht angesagt ist? Es geht um Risikominimierung. Das Thema Repression und Geschichte im Allgemeinen ist zu einem Minenfeld geworden."
Peter Jungblut
Graschtschenkow warnte seine Landsleute ebenfalls vor "unerwünschten Analogien": "In einer Situation, in der jede Verurteilung vergangener Diktaturen als Missverständnis der Gegenwart oder, schlimmer noch, als Fehlinterpretation der Vergangenheit ausgelegt werden kann, ist Schweigen die einzig sichere Strategie für einen regionalen Beamten (oder überhaupt für jeden)."
"Passt nicht zu erfolgreicher politischer Führung"
So gesehen traute sich der kremlkritische Blogger und Ex-Politiker Jewgeni Eduardowitsch Michailow ziemlich viel, indem er Stalin als "Asiaten" beschimpfte, der die Russen in die Knie gezwungen habe [externer Link]: "Offizielle Erklärungen für die von oben geförderte Neo-Stalinisierung halten einer kritischen Prüfung nicht stand. Sie behaupten, Stalin sei ein effektiver Manager gewesen, was schlichtweg absurd ist. Der Verlust von 26 Millionen Menschen, darunter 13 bis 19 Millionen Soldaten, während die westlichen Alliierten um ein Vielfaches weniger Kriegsverluste verzeichneten – die USA mit 300.000 Toten, Großbritannien mit 450.000 –, zeugt weder von effektiver Diplomatie noch von militärischer Kunst. Auch die Massenflucht sowjetischer Bürger zum Feind passt nicht zu einer erfolgreichen politischen Führung."
Dagegen warnen rechtsradikale Kreml-Propagandisten wie der Historiker Igor Schischkin [externer Link], jede Art "antisowjetischer Rhetorik" zerstöre den Patriotismus junger Russen: "Anders als die gescheiterte liberale Propaganda könnte dieser Ansatz unter dem Deckmantel des Nationalismus breite Resonanz finden." Wenn erst mal Kritik an der Sowjetzeit und damit auch an Stalin hingenommen werde, werde das nächste Ziel die gesamte "verdammte" russische Geschichte sein.
Ultrapatriot Juri Barantschik verwies darauf [externer Link], dass Russland im vierten Kriegsjahr immer noch Drohnen-Komponenten aus China importiere: "Ich denke, niemand bezweifelt, dass eine solche Aufgabe, wenn sie an Josef Stalin gestellt worden wäre, sagen wir 1943, in höchstens sechs Monaten gelöst worden wäre."
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