Nirgends auf der Wiesn wird Tradition so großgeschrieben wie beim Schichtl. Das älteste Theater auf dem Münchner Oktoberfest sei "so unerlässlich wie das Bier, der Radi und die Hendl", sagte einmal der frühere Oberbürgermeister Christian Ude über die makabere Gaudi-Show. Auch, wenn die Schausteller auf der Bühne mal improvisieren oder spontan auf ihr Publikum eingehen: Das Konzept ist seit den Anfängen im Jahr 1869 das gleiche. Höhepunkt einer jeden Vorstellung ist die "Enthauptung einer lebenden Person auf offener, hell erleuchteter Bühne mittels Guillotine".
Aber der, der enthaupten soll, ist nicht mehr da: Hjalmar Ringo Praetorius, berühmt-berüchtigter Henker mit tiefschwarzem Humor und tief bairischem Dialekt, ist im Juli verstorben. Zum Nachfolger wurde sein bisheriger Henkers-Gehilfe Martin Kollmann ernannt. Wie ersetzt man ein Original, das unersetzbar ist?
"Ich möchte ihn nicht kopieren"
"Der Ringo hat einfach Sprüche gehabt, die legendär sind. Und es bleibt immer was hängen", sagt Martin Kollmann im Gespräch mit BR24. Gerade hat er eine weitere Show hinter sich gebracht, eine nervös dreinschauende Dame im Dirndl scheinbar enthauptet und dann wieder unversehrt von der Bühne geleitet. Natürlich nicht, ohne sich an ihre kichernden Freundinnen zu wenden: "Schaut her, da ist sie, wie eine Forelle in der Isar, kurz vorm Ablaichen."
Es sind nicht nur die Sprüche, die der 48-Jährige sich von seinem Vorbild Praetorius abschauen konnte: "Er hat mir alles gelernt, was zu tun ist an der Guillotine, hat mir einen leichten Schubs in die richtige Richtung gegeben. Aber natürlich hab ich auch eigene Sprüche, die ich benutze, weil ich möchte ihn nicht kopieren."
Er war 40 Jahre lang der Henker beim Schichtl: Ringo Praetorius
Vom Müllmann zum Scharfrichter
Theaterbesitzer Manfred Schauer hält das für die richtige Herangehensweise. Er stand 40 Jahre lang mit Praetorius auf der Bühne. Die beiden waren ein Duo, das gerade deshalb so gut funktionierte, weil beide so unterschiedlich waren: Schauer, der redselige Geschäftsmann und Praetorius, der wortkarge Riese, der nur grimmig dreinschauen musste. Kollmann könne diese Lücke gut füllen, so Schauer: "Der macht es genau richtig, der macht seinen eigenen Stil, seine Rolle, seinen Schuh."
Beim Vergleich fällt auf: Kollmann gibt sich weniger bedrohlich, er sagt bitte und danke und ist alles in allem ein recht höflicher Scharfrichter. Wenn er bemerke, dass es dem von ihm erwählten Opfer mit Blick auf die anstehende Dekapitation nicht so gut gehe, bemühe er sich, die Hand zu halten oder beruhigende Worte zu flüstern – aber natürlich so, dass das vom Publikum aus nicht sichtbar ist.
"40 Jahre würd' ich's gerne machen"
Wenn Kollmann nicht gerade auf der Wiesn die Guillotine bedient, arbeitet er bei der Müllabfuhr. Zu dem Engagement im Schichtl kam er, weil er beim Leeren der Mülltonnen Schauer einfach einmal angesprochen hat. Ob der denn nicht einen Job für ihn habe. Die Rolle der bärtigen Dame, die Kollmann gerne gespielt hätte, war nicht verfügbar. Dafür aber der Aushilfs-Henker, mit Aussicht auf Beförderung. Abfall entsorgen und Köpfe rollen lassen, wie passt das denn zusammen? "Weils im Prinzip des gleiche ist!", sagt Kollmann. Und Schauer lacht: "Ja genau, wir müssen entsorgen."
Wenn es nach ihm gehe, könne das in den nächsten Jahren so weitergehen, fügt Schauer hinzu. Ob Kollmann ebenso lange als Henker durchhalten wird wie sein Vorgänger Ringo Praetorius? Der neue Henker lacht: "Also, 40 Jahre würd' ich's gerne machen, dann bin ich fast hundert ... ja, da hätt' ich Lust drauf!"
Im Audio: Wie schlägt sich der neue Henker beim Schichtl?
Wie schlägt sich der neue Henker beim Schichtl?
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