Historische mikroskopische Schnitte auf Glasplatten des Anatomischen Instituts der Universität Erlangen
Historische mikroskopische Schnitte auf Glasplatten des Anatomischen Instituts der Universität Erlangen
Bild
Hinrichtungsopfer in der Anatomie: Erlangen erforscht NS-Zeit
Bildrechte: BR/Ulrich Trebbin
Schlagwörter
Bildrechte: BR/Ulrich Trebbin
Audiobeitrag

Hinrichtungsopfer in der Anatomie: Erlangen erforscht NS-Zeit

Audiobeitrag
>

Guillotine-Opfer in der Anatomie: Erlangen erforscht NS-Zeit

Guillotine-Opfer in der Anatomie: Erlangen erforscht NS-Zeit

Von den fast 1.200 bayerischen Hinrichtungsopfern der NS-Zeit ist etwa die Hälfte an den Anatomischen Instituten der Universitäten München, Würzburg, Erlangen und Innsbruck zerlegt worden. Das Erlanger Institut arbeitet diese Vergangenheit nun auf.

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 am Samstagvormittag am .

Nie sind in Bayern so viele Menschen hingerichtet worden wie in der NS-Zeit – insgesamt 1.190 Menschen. Etwa die Hälfte der Leichname kam hinterher an die Anatomischen Institute der Universitäten von München, Würzburg, Erlangen und Innsbruck, wo Wissenschaftler an ihnen forschten und Studierende sie in Anatomiekursen zerlegten. Weder die Opfer noch die Angehörigen hat man damals um Erlaubnis gefragt. Die Erlanger Universität arbeitet diese ethisch problematische Geschichte derzeit auf.

Etwa 100 enthauptete Leichen für Erlangen

Diese Arbeit leistet vor allem der Erlanger Medizinstudent und Doktorand Tim Goldmann. Zunächst hat er herausgefunden, dass das Anatomische Institut Erlangen in der NS-Zeit etwa 100 enthauptete Leichen von der Hinrichtungsstätte des Gefängnisses München Stadelheim bekommen hat. Diese Recherche war erschwert, weil das damalige Leicheneingangsbuch im Krieg offenbar zerstört wurde.

Dann versuchte Tim Goldmann festzustellen, ob in der Anatomischen Sammlung des Instituts noch Organe oder sonstige Präparate der Opfer aufbewahrt werden. "Bei den meisten Präparaten lässt sich das heute nicht mehr eruieren, weil sie nicht eindeutig beschriftet sind", sagt Goldmann. Immerhin kann er mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass von vier Stadelheimer Opfern noch jeweils ein hauchdünner Gewebeschnitt erhalten ist.

Charlotte Schulz (20): Wegen Diebstahls hingerichtet

Diese etwa ein Quadratzentimeter großen Gewebeschnitte sind auf kleine Glasplättchen aufgebracht, damit man sie unter dem Mikroskop betrachten kann. Der Schnitt einer Achselschweißdrüse etwa stammt von der 20-jährigen Charlotte Schulz. Das Sondergericht Nürnberg hat sie am 23. Februar 1940 zum Tode verurteilt, weil sie Teil einer Diebesbande gewesen sein und sich prostituiert haben soll. Eine Woche vor ihrer Hinrichtung mit der Guillotine hoffte sie noch auf Rettung, wie in einem verzweifelten Brief an ihre Mutter anklingt:

"Liebe Mutti! Habe Deinen Brief dankend erhalten. Gestern ist das Paket angekommen. (...) Habt ihr etwas schon vom Gesuch (= Gnadengesuch) erfahren? Es ist furchtbar nervenaufreibend, diese Wartezeit. Ich bin vollkommen mit den Nerven fertig. (...) Hoffentlich tritt bald eine Änderung ein, sonst werde ich noch ganz verrückt. Gott wird mir schon helfen. (...) Schreib mir bitte recht oft und lasst mich bitte nicht so lange warten." Charlotte Schulz

Möglicherweise belastete Präparate separat gelagert

Diesen Brief hat die NS-Justiz nie zugestellt, und er liegt noch im Staatsarchiv München. Die Suche nach Angehörigen oder Nachkommen läuft derzeit, auch damit der Brief übergeben werden kann. Den Leichnam von Charlotte Schulz hat dann die Anatomie in Erlangen für Lehre und Forschung zerlegt. Auf dem Glasplättchen des erhaltenen Gewebeschnittes steht zufällig vermerkt, dass er von einer 20-jährigen Frau Schulz stammt, und es gab im fraglichen Zeitraum keine andere dieses Namens und Alters.

Wahrscheinlich stammen aber noch wesentlich mehr erhaltene Gewebeschnitte oder vielleicht sogar Organe von Stadelheimer Leichen. Alle verdächtigen Präparate hat Tim Goldmann deshalb erst einmal aussortiert, weil es ethisch problematisch wäre, sie einfach weiter in Forschung und Lehre zu verwenden.

Präparate von Hingerichteten bestatten?

Aber was tun mit den tatsächlich belasteten Präparaten? Sollte man sie bestatten? Der Leiter der Erlanger Anatomie-Sammlung und Anatomieprofessor Michael Scholz würde damit lieber noch warten. Denn vielleicht findet man ja noch mehr über die Präparate heraus, vielleicht lassen sich noch Nachkommen der Opfer recherchieren, die man in die Entscheidung einbeziehen kann, und vielleicht bringt die Zukunft auch noch Techniken, mit denen man die Präparate eines Tages noch besser untersuchen kann.

Solange also nicht alles über die Präparate und ihre Geschichte bekannt ist, "würde ich eher archivieren und aufheben, bevor ich im Nachhinein feststelle: Schade, jetzt ist es weg, jetzt hätte ich vielleicht noch eine Möglichkeit, etwas herauszufinden, kann es aber nicht mehr machen", sagt Scholz.

Suche nach Charlotte Schulz' Nichte

Die 20-jährige Charlotte Schulz hatte zwar keine Kinder, aber ihr Bruder hatte eine Tochter, die in Schwerin geboren ist. Wenn sie sich findet, soll sie mitbestimmen dürfen, was mit dem Gewebeschnitt ihrer Tante geschehen soll.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!