"Verunsicherung", "Planungschaos": Lehrerverbände reagieren zum Teil verärgert auf den überraschenden Kurswechsel der Staatsregierung bei der Ausstattung von Schülerinnen und Schülern mit Tablets. Noch im März seien die Schulen über unveränderte Rahmenbedingungen fürs nächste Schuljahr informiert worden, einschließlich der möglichen Geräteausstattung ab Jahrgangsstufe 5, erläuterte Tobias Schreiner, Leiter der Fachgruppe Realschule im Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV).
Die Ankündigung von Ministerpräsident Markus Söder (CSU), dass es die Geräte künftig erst ab der 8. Klasse geben solle, habe die Schulen "kalt erwischt und für größte Verunsicherung" gesorgt. "Die Planungen fürs nächste Schuljahr sind längst abgeschlossen, Elternabende gehalten, Lehrkräfte fortgebildet, Bestellungen und Projektwochen geplant."
Neuer Kurs nach einem Jahr
Der Koalitionsvertrag von CSU und Freien Wählern aus dem Herbst 2023 sieht vor: "Bis spätestens 2028 sollen sukzessive alle Schülerinnen und Schüler ab der 5. Klasse mit digitalen Endgeräten ausgestattet werden." Im vergangenen Jahr beschloss das Kabinett, im Schuljahr 2024/2025 mit der schrittweisen "1:1-Ausstattung aller Schülerinnen und Schüler" zu beginnen. Mit einer Bekanntmachung des Kultusministeriums wurde dies besiegelt.
Am Montag kündigte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) überraschend an: "Künftig mobile Endgeräte erst ab der achten Klasse." Es gelte die Devise: "Umso jünger, umso weniger digital, dafür mehr klassisch." Mit den Lehrerverbänden war dies offenbar nicht vorab besprochen worden.
"Brodelt gewaltig"
Nach dieser "drastischen Digital-Rolle rückwärts" brodle es an vielen Schulen gewaltig, betont der Vorsitzende des Bayerischen Realschullehrerverbands (brlv), Ulrich Babl. "Die Planungen für das nächste Schuljahr laufen auf Hochtouren, Medienkompetenzteams arbeiten seit Monaten an schlüssigen Konzepten und zahlreiche Kolleginnen und Kollegen haben bereits alles auf den Weg gebracht." Es dürfe nicht sein, dass ihnen nun der Stecker gezogen werde.
Der brlv beklagt einen "Zickzackkurs". Zunächst sei versucht worden, die digitale Schule "mit der Brechstange" umzusetzen, sagte Babl. Jetzt sorge die Staatsregierung mit dem "Überraschungsei Tablet-Stopp in der Unterstufe" dafür, "dass Planungschaos und Unsicherheit an den Schulen herrschen".
"Das geht nicht"
Der BLLV beklagte eine "Kehrtwende ins Chaos". "Erst rein und jetzt wieder raus, das geht nicht", sagte BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. Schulen hätten auf die Ankündigungen der Staatsregierung vertraut. Als "irritierend" bezeichnet der BLLV auf seiner Internetseite, "dass derzeit lieber von oben durchreguliert wird", statt angesichts großer Unterschiede in der Schülerschaft auf die pädagogische Expertise der Lehrerinnen und Lehrer zu setzen.
Eine Antwort des Kultusministeriums auf die Kritik der Lehrerverbände steht noch aus.
Philologenverband: Schritt in die richtige Richtung
Auch der Bayerische Philologenverband hätte sich die Entscheidung mit Blick auf das nächste Schuljahr zwar "bereits früher gewünscht". Grundsätzlich aber wertet Verbandschef Michael Schwägerl die Entscheidung als einen "für die Gesellschaft wichtigen Schritt in die richtige Richtung". Der bpv habe sich wiederholt dafür starkgemacht. "Der sinnvolle, kritische Umgang mit digitalen Endgeräten setzt voraus, dass davor analoge Grundfähigkeiten erworben und eingeübt werden."
Andere europäische Länder hätten bereits negative Erfahrungen mit einer zu frühen schulischen Digitalisierung gesammelt. "Daher ist es gut, dass Bayern diesen Kurswechsel vornimmt." Gleichwohl bedeute dies, auch in den Jahrgangsstufen davor die Lebensrealität der jungen Menschen aufzugreifen und sich medienpädagogischen Fragestellungen intensiv zu widmen.
Forscher: Überfällig
Der Augsburger Bildungsforscher Klaus Zierer sprach von einem längst überfälligen Schritt. "Die Forschungslage warnt nicht erst seit heute vor einem Zuviel und einem Zufrüh an digitalen Medien in den Schulen, sondern ist seit Jahren bekannt." Wer ohne Rücksicht auf diese Ergebnisse handle, schade damit vor allem den Kindern.
Zierer fordert, die weitere 1:1-Ausstattung auszusetzen. "Seit Jahren glänzt die bayerische Bildungspolitik mit Schnellschüssen, so dass es höchste Zeit ist, nun endlich vor dem Handeln einmal gründlich nachzudenken." Zudem habe das bayerische Konzept den "Konstruktionsfehler", dass die Tablets als bezuschusste private Geräte angeschafft werden müssten und nicht als Schul-Tablets zur Verfügung stünden: "Damit ist die Kontrolle verloren, Bildungsungerechtigkeit nimmt zu und Lernleistung sinkt."
Im Video: Kabinettsklausur am Tegernsee
Kabinettsklausur am Tegernsee
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