Zwei Frauen tragen Camouflage und legen Patronen in einen Kasten.
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Die "Hexen von Butscha" sind eine ehrenamtliche Luftverteidigungseinheit, die sich Anfang April 2024 gegründet hat.
Bildrechte: BR/Michelle Balzer
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Die "Hexen von Butscha" sind eine ehrenamtliche Luftverteidigungseinheit, die sich Anfang April 2024 gegründet hat.

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Der unsichtbare Kampf – Ukrainische Frauen in neuen Rollen

Der unsichtbare Kampf – Ukrainische Frauen in neuen Rollen

Mitten im Wald nördlich von Kiew versammeln sich die "Hexen von Butscha", eine ehrenamtliche Luftverteidigungseinheit, die überwiegend aus Frauen besteht. Was als kleine Initiative begann, ist heute ein Symbol für den Wandel der Frauenrolle im Krieg.

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Es ist ein windiger und nasser Morgen, als die "Hexen von Butscha" zum Training kommen. Der vereinbarte Treffpunkt liegt etwa dreißig Kilometer nördlich von Kiew, irgendwo mitten im Wald. Rund 50 Teilnehmende sind heute gekommen, um zu lernen, wie sie russische Drohnen vom Himmel schießen.

Tagsüber Konditorin, nachts auf Drohnen schießen

Auch die 43-jährige Liudmyla ist seit über einem Jahr eine ehrenamtliche "Hexe". Tagsüber verdient sie ihr Geld als Konditorin, nachts holt sie Drohnen vom Himmel. Die Gründe der Frauen, sich ehrenamtlich zu engagieren und den "Hexen" anzuschließen sind ganz unterschiedlich. Für viele Frauen ist das Massaker von Butscha die Motivation, hier mitzumachen, der Gemeinde etwas zurückzugeben, sich nützlich zu machen. "Ich bin hier, um mein Land, meine Stadt und die Träume meiner Kinder nach besten Kräften zu verteidigen. Und das ist das Mindeste, was ich für mein Land tun kann", so Liudmyla.

Die "Hexen von Butscha", die sich selbst so nennen, sind eine ehrenamtliche Luftverteidigungseinheit, die sich Anfang April 2024 mit etwa zehn Teilnehmenden gegründet hat. Mittlerweile sind es über 100 und die meisten davon sind Frauen. Sie lernen, wie sie mit ihren eigenen Drohnen die der Russen abschießen können, wie sie jemanden entwaffnen, wie sie Waffen auseinander bauen, reinigen und wieder zusammensetzen und auch wie sie richtig schießen.

Ukrainerinnen engagieren sich häufig ehrenamtlich

Solche Vereinigungen sind alles andere als eine Ausnahme in der Ukraine, erklärt die Soziologin Olena Strelnyk von der National Academy of Science. Strelnyk forscht unter anderem zu den Themen Geschlecht und Krieg und hat festgestellt: Ehrenamtliche Arbeit ist eine von mehreren Bereichen, in denen sich die Rolle der ukrainischen Frau durch den Krieg grundlegend verändert hat. Die ehrenamtliche Arbeit, die Frauen leisten, bleibt häufig unsichtbar, so Strelnyk. Dazu zählen zum Beispiel auch Essen kochen für verletzte Soldaten, Spenden sammeln oder das Nähen von Camouflage-Netzen.

Die sichtbarste und entschiedenste Veränderung der Frauenrolle im Krieg sei aber der Beitrag zum militärischen Widerstand: "Es nicht die neue Norm, aber gleichzeitig auch nichts Exotisches mehr", so Strelnyk. "Wenn wir uns die Daten von soziologischen Umfragen ansehen, scheint es, dass diese Rolle tatsächlich immer normaler wird. So gaben beispielsweise im Jahr 2023 80 Prozent der Ukrainer an, dass sie das Bild von Veteranen gleichermaßen mit Frauen und Männern verbinden."

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Die entschiedenste Veränderung der Frauenrolle im Krieg sei der Beitrag zum militärischen Widerstand, erklärt die Soziologin Olena Strelnyk.

Krieg verändert die Dynamiken zwischen Mann und Frau

Laut Olena Strelnyk verändert der Krieg Dynamiken zwischen den Geschlechtern in der ukrainischen Gesellschaft. Sie stellt außerdem bedeutende soziologische Veränderungen fest, wenn sie Umfragen vor und nach der Invasion 2022 vergleicht. "Zum Beispiel die Zustimmung zur Aussage, dass eine Frau immer den Haushalt erledigen muss, ist deutlich gesunken. Der Anteil derjenigen, die glauben, dass es nicht normal ist, wenn die Frau erfolgreicher ist oder mehr verdient als der Ehemann, ist auch deutlich gesunken."

Laut Strelnyk hänge dieser starke Rückgang und die Bewegung hin zu egalitäreren, progressiveren Geschlechteransichten wahrscheinlich mit den Folgen des Krieges zusammen, "nämlich der Mobilisierung von Männern und der Neuorganisation der Geschlechterrollen in Familien, die durch den Krieg getrennt sind."

Grundlegend verändertes Familienleben

Was die Soziologin aus den Daten erkennt, erlebt Liudmyla täglich. Ihr Leben und das ihrer Familie hat sich in den letzten vier Jahren grundlegend verändert. So sei sie mittlerweile von ihren Kindern getrennt. Sie lebt in Butscha, ihre Kinder in Kiew, wo sie auch zur Schule gehen. "Für meine Kinder ist es ziemlich kompliziert geworden, weil sie keine Mutter mehr haben, die rund um die Uhr für sie da ist, sich um sie kümmert, sie erzieht und versorgt. Sie müssen viele Dinge selbst erledigen, ihr Essen selbst aufwärmen und kochen." Sie müssten lernen, wie ein Erwachsener zu leben.

Die Alternative wäre gewesen, die Ukraine zu verlassen, wie es viele Frauen mit Kindern getan haben, doch für Liudmyla keine Option. Auch hier habe der Krieg gezeigt, wie zerbrechlich die klassischen Geschlechterrollen in Familien eigentlich sind, so Olena Strelnyk: "Ich glaube, dass die Erfahrung des Krieges in gewisser Weise die Anpassungsfähigkeit von Frauen und Männern erhöhen wird. Die Fähigkeit, Widerstand zu leisten und auf Stress und Unsicherheit zu reagieren." Dies gelte insbesondere für Frauen, die ins Ausland vertrieben wurden. Sie hätten ein Gespür dafür entwickeln müssen, ihr Familienleben unter neuen Umständen zu gestalten.

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