Zu sehen ist der Rücken des anderthalbjährigen palästinensischen Jungen Mohammed Zakariya Ayyoub al-Matouq. Er leidet an angeborenen Gesundheitsproblemen und an Hunger. Seine Mutter hält ihn,  sie befinden sich in einem Zelt.
Zu sehen ist der Rücken des anderthalbjährigen palästinensischen Jungen Mohammed Zakariya Ayyoub al-Matouq. Er leidet an angeborenen Gesundheitsproblemen und an Hunger. Seine Mutter hält ihn,  sie befinden sich in einem Zelt.
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Der anderthalbjährige Palästinenser Mohammed Zakariya Ayyoub al-Matouq leidet unter angeborenen Gesundheitsproblemen und gleichzeitig an Hunger.
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Der anderthalbjährige Palästinenser Mohammed Zakariya Ayyoub al-Matouq leidet unter angeborenen Gesundheitsproblemen und gleichzeitig an Hunger.

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#Faktenfuchs: Hunger in Gaza – Deutungskampf um Bilder

#Faktenfuchs: Hunger in Gaza – Deutungskampf um Bilder

Derzeit kursieren Bilder ausgemergelter Kinder aus dem Gazastreifen im Netz. Zu manchen verbreitet sich die Behauptung, die Kinder seien chronisch krank statt unterernährt. Doch das eine schließt das andere nicht aus. Ein #Faktenfuchs.

Über dieses Thema berichtet: BR24live am .

Darum geht's:

  • Bilder von abgemagerten Kindern aus Gaza sorgen für Diskussionen. Manche User, Blogs und sogar das israelische Außenministerium behaupten, die Kinder seien nicht unterernährt, sondern leiden an anderen Erkrankungen.
  • Medizinische Experten betonen: Zwar gibt es Fälle, wo die Kinder Vorerkrankungen haben, aber die Mangelernährung ist real und unabhängig von etwaigen Grunderkrankungen alarmierend.
  • Einzelfotos können das Gesamtbild nicht entkräften: Ein Viertel der Gesamtbevölkerung im Gazastreifen lebt laut UN-Hilfsorganisationen unter Bedingungen, die der äußersten Phase einer Hungerkrise entsprechen.

Hilfsorganisationen schlagen aufgrund der Krise in Gaza Alarm. Die Bevölkerung vor Ort hungert, das berichten mehrere Hilfsorganisationen unabhängig voneinander.

  • Ob die neuen Gaza-Hilfen Erleichterung bringen könnten, lesen Sie hier.

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu sagte dagegen vor wenigen Tagen (externer Link): "Es gibt keinen Hunger in Gaza". Auf sozialen Medien entspann sich derweil eine Diskussion über einige Bilder von ausgemergelten Kindern aus Gaza, die aktuell viel geteilt werden. Der Vorwurf: Die Kinder seien nicht aufgrund von Hunger so abgemagert, sondern wegen chronischer Krankheiten. Auch das israelische Außenministerium schrieb auf der Plattform X: "BBC, CNN, Daily Express, und die New York Times verbreiteten eine irreführende Geschichte, indem sie ein Bild eines kranken, behinderten Kindes nutzten, um ein Narrativ einer Massenhungersnot in Gaza zu befördern – und spielen damit der Propaganda der Hamas in die Hände."

Kinderarzt widerspricht: "Akute Mangelernährung ist sichtbar"

Kinderarzt Nicolas Aschoff von der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" widerspricht der Aussage, es gebe keinen Hunger in Gaza, entschieden. Er sagt: "Was wir sehen können: Die Kinder haben eine akute Mangelernährung." Zwar hätten auch manche Kinder im Gazastreifen seltene Erkrankungen wie Zerebralparese (neurologische Erkrankungen), Mukoviszidose (eine genetisch bedingte Stoffwechselerkrankung) oder Muskeldystrophie (Muskelschwund).

Spekulationen darüber, ob auf einigen Bildern Kinder zu sehen sein könnten, die an genetischen Erkrankungen oder Behinderungen leiden, bezeichnet er aber als "argumentative Blendgranaten". "Die gesamte Diskussion führt insofern am Thema vorbei, dass wir hier jetzt abgelenkt werden, uns darüber zu unterhalten, welche Erkrankung vielleicht diese Kinder noch haben könnten", kritisiert Aschoff. Viel wichtiger sei: "Mangelernährung ist auch in dieser Gruppe kein Naturgesetz und sollte nicht auftreten."

Hilfsorganisationen kritisieren, dass Einzelfälle genutzt werden, um die Hungerkrise in Gaza insgesamt infrage zu stellen.

Virales Beispiel: Mohammed Zakariya Ayyoub al‑Matouq

Ein besonders bekanntes Beispiel sind die Fotos des 18 Monate alten Mohammed Zakariya Ayyoub al‑Matouq (Foto oben). Auf diese Fotos bezog sich auch das israelische Außenministerium in seinem X-Post. Die Bilder von al-Matouq gingen um die Welt, sie zeigen ihn in den Armen seiner Mutter, die in einem dunklen Zelt steht. Mohammed ist so abgemagert, dass jede Rippe und jeder Wirbel deutlich zu sehen ist.

Die Fotos von al-Matouq wurden von dem lokalen Journalisten Ahmed Jihad Ibrahim Al-arini laut eigener Angabe am 21. Juli 2025 aufgenommen und über die türkische Nachrichtenagentur Anadolu in zahlreichen internationalen Medien verbreitet. Unter anderem verwendeten sie die New York Times, BBC, CNN und Sky News. Viele Redaktionen nutzten die Aufnahmen, um die dramatische humanitäre Situation und den akuten Hunger im Gazastreifen vor Augen zu führen.

Neben dem israelischen Außenministerium warfen den Medien mehrere Internet-Aktivisten vor, eine Vorerkrankung des Jungen bewusst zu verschweigen – unter anderem der pro-israelische Blog "Honest Reporting". Zudem behaupteten Kritiker, Mohammeds Bruder, der nicht abgemagert sei, sei absichtlich aus dem Bild geschnitten worden, um ein dramatischeres Bild zu erzeugen. Das rechtspopulistische Nachrichtenportal Nius.de schrieb etwa: "So wird das Publikum im Glauben gelassen, Muhammad leide an Hunger – obwohl seine Mutter und sein dreijähriger Bruder, der in der Fotoserie ebenfalls zu sehen ist, sichtbar nicht unterernährt sind."

Die Ärztin, die Mohammed in Gaza behandelte, bestätigte der New York Times und der türkischen Agentur Anadolu, dass Mohammed unter angeborenen Gesundheitsproblemen leidet, darunter Gehirnkomplikationen und Muskelschwund. Allerdings sei seine akute Unterernährung nicht darauf zurückzuführen, sagte die Ärztin Anadolu. Auch die New York Times schreibt, Mohammed leide an schwerer Unterernährung – den Hinweis auf seine Vorerkrankung fügte sie nachträglich in ihren Artikel ein.

Bilder zeigen unterernährte Kinder – Verifizierung bleibt schwierig

Es kursieren immer wieder Bilder von Kindern aus dem Gazastreifen mit chronischen Krankheiten – teils auch, ohne dass diese Krankheiten in der Veröffentlichung genannt werden. Gleichzeitig existieren zahlreiche Bilder von westlichen Nachrichtenagenturen wie Associated Press (AP), die unterernährte Kinder im Gazastreifen zeigen, die keine Vorerkrankungen haben. Die konkreten einzelnen Bilder unabhängig zu verifizieren, ist schwierig. Internationale Journalisten dürfen nicht ohne israelische Begleitung in den Gazastreifen – bei den so genannten Embeds mit der israelischen Armee treffen sie in der Regel keine Palästinenser.

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Das Bild zeigt den 9 Monate alten palästinensischen Jungen Adi Wael Habib. Er leidet an schwerer Unterernährung.

Für Kinderarzt Aschoff zeigen sie dennoch deutlich: "Diese Kinder haben einfach zu wenig zu essen." Kinder unter fünf Jahren seien von einer Hungersnot als erstes betroffen, erklärt Aschhoff: "Ältere Menschen können Mangelsituationen länger kompensieren." Aschoff erklärt: "Einfach gesprochen gerät ein Kind, wenn es hungert, viel schneller als ein erwachsener Mensch in eine Negativspirale aus kataboler Stoffwechsellage [Zustand, bei dem der Körper aus Nahrungsmangel eigene Energiereserven abbaut; Anm. d. Red.], Krankheit und Appetitlosigkeit." Deshalb sehe man Erwachsenen Mangelernährung oft erst sehr viel später an.

Auch unter Kindern könne eine Mangelernährung aber unterschiedliche Ausprägungen haben. Manche Kinder entwickelten beispielsweise Hungerbäuche, andere sähen ausgemergelt aus. Aschoff sagt: "Auf den ersten Blick mag das eine Kind gesünder aussehen als das andere, ohne gesünder zu sein. Hier dürfen keine falschen Rückschlüsse gezogen werden."

Aschoff hat als Kinderarzt für Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan, Südsudan und Sierra Leone bereits selbst mangelernährte Kinder behandelt. "Die Bilder unterscheiden sich aus medizinischer Sicht nicht wesentlich und sprechen eine deutliche Sprache", sagt er im Gespräch mit dem #Faktenfuchs.

Hilfsorganisationen warnen vor Hungersnot

Hilfsorganisationen vor Ort bestätigen die dramatische Lage in Gaza. Ninja Charbonneau, Pressesprecherin für das Deutsche Komitee des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef) schrieb dem #Faktenfuchs: "Unicef ist mit einem Team vor Ort in Gaza und unsere Kolleg*innen berichten ständig von der verzweifelten Lage der Kinder und von Eltern, die nicht wissen, woher sie die nächste Mahlzeit bekommen sollen." Zudem habe die Zahl der Kinder, die wegen akuter Mangelernährung behandelt werden müssen, in den letzten Wochen stark zugenommen.

Zu den Fotos von hungernden Kindern, die im Netz kursieren, sagt Charbonneau, dass es schwer zu beurteilen sei, ob es sich bei den Abbildungen um Kinder mit Erkrankungen oder Erkrankungen in Kombination mit Mangelernährung handelt. Einzelne Fotos seien aber auch nicht entscheidend: "Aus unserer Sicht besteht kein Zweifel daran, dass – unabhängig von der Echtheit einzelner Bilder – ein Großteil der Kinder in Gaza durch Hunger und Mangelernährung akut bedroht sind und bereits Kinder an den Folgen sterben", so Charbonneau.

Auch andere Hilfsorganisationen ​​berichten von katastrophalen Zuständen. Ärzte ohne Grenzen ist laut eigenen Angaben noch mit über 1.000 Helfern vor Ort. "Wir haben schwerst mangelernährte Kinder in unseren Krankenhäusern", so die Leiterin der Advocacy-Abteilung, Lara Dovifat, im Gespräch mit BR24.

IPC-Bericht: 39 Prozent der Bevölkerung gehen tagelang leer aus

Martin Fürderer von der Welthungerhilfe, die ebenfalls Mitarbeiter vor Ort hat, sagte zu BR24, dass ein Teil der Menschen zweifellos in einer katastrophalen Lage sei. "Man kann durchaus sagen: 500.000 Menschen verhungern."

Das entspricht fast einem Viertel der Bevölkerung Gazas. Tatsächlich zeigt der aktuelle Bericht der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) – ein globales System zur Einschätzung von Ernährungssicherheit – vom 29. Juli 2025, dass mehr als jeder Dritte (39 Prozent) in Gaza tagelang ohne Essen auskommen muss. Demnach zeichne sich in Gaza derzeit "das schlimmste Szenario einer Hungersnot" ab. Zwei von drei Indikatoren für eine Hungersnot – Lebensmittelverbrauch und Ernährung – haben demnach die entscheidende Schwelle schon überschritten. Für den dritten Indikator, die Sterberate durch Hunger, gebe es nicht genügend Daten.

In Gaza-Stadt habe sich laut IPC zudem die Rate der mangelernährten Kleinkinder unter fünf Jahren innerhalb von zwei Monaten vervierfacht und liege nun bei 16,5 Prozent. Im Juni wurden rund 6.500 Kinder wegen Mangelernährung behandelt – so viele wie noch nie seit Beginn des Konflikts.

Israel lässt nach eigenen Angaben seit einigen Tagen mehr Hilfslieferungen in den Gazastreifen zu. Die Lastwagen werden jedoch häufig geplündert, es kommt zu Massenpaniken mit zahlreichen Toten. In der Nähe von Verteilzentren starben laut UN über 1.000 Menschen, Hilfsorganisationen berichten von Schüssen israelischer Soldaten – die Armee spricht von "Warnschüssen". Auch Luftabwürfe, an denen sich Deutschland beteiligen will, gelten als teuer, ineffizient und gefährlich. Hilfsorganisationen kritisieren, die Hilfe erreiche oft nicht die Bedürftigsten – auch nicht Kinder.

Fazit

Chronisch kranke Kinder im Gazastreifen können zugleich an Hunger leiden – das ist Experten zufolge kein Widerspruch. Es gibt zudem Bilder von hungernden Kindern aus dem Gazastreifen ohne chronische Erkrankungen. Mehrere Hilfsorganisationen berichten außerdem von grassierendem Hunger im Gazastreifen. Die Situation erfüllt derzeit zwei von drei Indikatoren für eine Hungersnot.

Quellen:

Interviews/Presseanfragen

Anfrage bei Unicef Deutschland

Interview mit Dr. med Nicolas Aschoff, Kinderarzt, engagiert bei "Ärzte ohne Grenzen" und "L'appel"

Veröffentlichungen

Associated Press: Netanyahu denies reports of starvation in Gaza, blames Hamas for stealing aid

BR24: Hungerkrise in Gaza: Bringen die neuen Hilfen Erleichterung?

IPC Alert: Worst-case scenario of Famine unfolding in the Gaza Strip

Unicef: Gaza: Schwellenwerte für Hungersnot teilweise überschritten

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