Carsten Breuer, Generalinspekteur der Bundeswehr, und andere ranghohe europäische Militärs warnen vor einem möglichen russischen Angriff auf die Nato bis 2029. Auch namhafte Militärexperten sehen diese Gefahr. Gustav Gressel, Hauptlehroffizier und Forscher an der Landesverteidigungsakademie des Bundesheeres in Wien, gilt als einer der profiliertesten Kenner der russischen Militärstrategie. Im BR24-Interview für "Possoch klärt" erläutert er, warum er einen Krieg für unvermeidlich hält.
BR24: Was passiert 2029?
Gustav Gressel: Es ist ein relativ kritisches Jahr. Wir haben die amerikanische Präsidentschaftswahl, niemand weiß, ob Trump wirklich ein drittes Mal antritt. Die Zeit zwischen Wahl und Amtseinführung dürfte sehr turbulent verlaufen. Russland steht dann wahrscheinlich relativ gut militärisch da, weil es Kampferfahrung gesammelt hat und durch Allianzen mit Nordkorea und China schnell nachrüsten konnte. Europa ist noch im Nachholen.
Zur Analyse: Was passiert, wenn Russland die Nato angreift?
"Das Baltikum ist nicht genug"
BR24: Ist ein russischer Nato-Angriff realistisch?
Gressel: Durchaus im Bereich der Möglichkeiten. Aber es wird nicht nur Spitzbergen oder nur Narwa sein. Das würde Putin nicht reichen. Die politischen Ziele Russlands sind, die europäische Sicherheitsordnung zu zerschlagen und durch eine nach Moskau ausgerichtete zu ersetzen. Dafür müsste Russland in allen drei baltischen Staaten und Ostpolen einmarschieren, die nicht-russische Bevölkerung ausradieren und das vor Kameras dokumentieren, dann einen Pflock einschlagen und sagen: 'Hier ist der Frieden-, Freundschafts- und Kooperationsvertrag mit Russland, wenn ihr nicht unterschreibt und die Nato auflöst, dann ergeht es euch so wie den baltischen Staaten.'
BR24: Das klingt drastisch. Sind wir dafür gewappnet?
Gressel: Absolut nicht. Der deutsche Außenminister hat bestätigt, dass alles über die deutsche Brigade in Litauen hinaus für die Bundeswehr schon eine Überforderung ist. Wir haben am Papier viel Zeug, aber es ist nicht einsatzfähig. Unsere militärischen Strukturen sind nicht gemacht für einen großen Krieg ohne amerikanische Rückendeckung.
Im Video: Was passiert, wenn Russland die Nato angreift? Possoch klärt!
Russland-Angriff: ein Schockmoment "wie im Ersten Weltkrieg"
BR24: Was würde das konkret für Deutschland bedeuten?
Gressel: Deutschland ist voller strategischer Ziele für russische Raketen und Drohnenangriffe – als Logistikdrehscheibe und wichtigster europäischer Rüstungsproduzent. Die Bundeswehr müsste im Baltikum kämpfen, weitere Mobilmachungsmaßnahmen wären nötig. Das würde Deutschland finanziell und wirtschaftlich treffen – eine große Krise, vergleichbar mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
BR24: Ist der Krieg noch abwendbar?
Gressel: Ja, aber nur, wenn Europa kriegsbereit wird. Dazu gehören nicht nur Waffenkäufe, sondern strukturelle Veränderungen, personelle Tiefe, Zivilschutzkonzepte. Putin testet immer ab, ob das Opfer isoliert ist und die Helfer schwach sind. Wenn er zum Schluss kommt, die können doch was, lässt er davon ab.
Gustav Gressels düstere Prognose: "Wir stehen auf 100 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass dieser Krieg kommen wird."
"Wir erschaffen Papiertiger"
BR24: Mal in Prozenten ausgedrückt: Wie wahrscheinlich ist der Krieg?
Gressel: Ich hatte das mal mit 80 Prozent bewertet. Jetzt stehen wir auf 100 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass dieser Krieg kommen wird. Die Europäer haben weder strategische Unabhängigkeit von den USA bewiesen noch militärische Härte gezeigt. Wir erschaffen Papiertiger, vor denen die Russen keinen Respekt haben.
BR24: Welche Rolle spielt der Ausgang des Ukrainekriegs dabei?
Gressel: Ein ganz großer Schlüssel liegt in der Ukraine. Wenn es den Europäern gelingt, die Ukraine zu erhalten und zu ertüchtigen, hätte das abschreckende Wirkung für spätere Abenteuer. Aber die Ukraine gilt in Europa als karitativer Event, nicht als zentrales Element der europäischen Sicherheit. Solange sich das nicht ändert, wird sich der Revanchekrieg auch gegen andere ehemalige Sowjetstaaten richten.
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