Der russische Präsident am 18. Juli 2025 im Kreml
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Wladimir Putin: Entschlossen zu noch mehr Unterdrückung?
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Wladimir Putin: Entschlossen zu noch mehr Unterdrückung?

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"Nicht murren": Will Putin die Gesellschaft "abschalten"?

"Nicht murren": Will Putin die Gesellschaft "abschalten"?

Ungeachtet der Verfassung beschneiden in Russland ständig neue Gesetze die bürgerlichen Freiheiten, demnächst ist sogar Surfen im Netz gefährlich. Politologen vermuten, Putin wolle die Bevölkerung "von sich selbst" isolieren und mundtot machen.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Die russischen Behörden halten die gesamte Bevölkerung des Landes in erster Linie für Schwachköpfe und Idioten, die, nachdem sie etwas Verbotenes gelesen haben, sofort extremistische Straftaten begehen und gegen Recht und Ordnung verstoßen. Genau diese niederträchtige Einstellung ist Ausdruck der Verachtung der Menschen", so der russische Polit-Blogger Anatoli Nesmijan [externer Link] über die innenpolitische Lage in Russland, die von zunehmender Zensur und Unterdrückung geprägt ist.

Ab 1. September ist es sogar strafbar, im Netz nach "extremistischen" Inhalten zu suchen, was einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hatte, auch unter "Ultrapatrioten". Putin fragte Medienminister Maksut Tschadajew [externer Link] daraufhin demonstrativ, wie das neue Gesetz in der Praxis angewendet werden solle. Die Strafverfolgungsbehörden müssten nachweisen, dass Internetnutzer vorsätzlich "extremistisches Material" angeklickt hätten, so der Minister. Wer "unbewusst" auf verbotene Inhalte stoße, habe nichts zu befürchten: "So gesehen müssen sich normale Nutzer keine Sorgen machen." Kritiker vermuten dagegen, dass den Behörden eine weitere Möglichkeit in die Hand gegeben werden sollte, jedweden unbequemen Bürger festzunehmen.

"Mit Geld lässt sich einiges erreichen"

Für den in London lehrenden Politologen Wladmir Pastuchow ist Putin entschlossen [externer Link], die russische Gesellschaft "abzuschalten" und nicht nur vom Ausland, sondern auch von sich selbst zu isolieren: "Eine völlig abgeschottete und streng kontrollierte Gesellschaft entspricht den Schönheitsidealen der Elite um Putin. Doch bisher fehlten die technischen und politischen Ressourcen, um ihr utopisches Projekt 'Stadt ohne Sonne' in die Tat umzusetzen. Jetzt aber sind sie vorhanden. Zumindest denken sie das. Warum nicht versuchen, einen Plan für die Aushebung eines solchen Schachts zu schmieden? Mit Geld lässt sich einiges erreichen..."

Damit die Kreml-Propaganda "wie Heroin" wirken könne, müssten alle konkurrierenden Informationsmöglichkeiten unterbunden und eine "virtuelle" Realität geschaffen werden, in der Russland allen anderen Nationen überlegen sei: "Großartigkeit ist eine Droge, die, wenn sie systematisch verabreicht wird, den Durchschnittsmenschen sehr schnell in einen Medien-'Junkie' verwandeln kann."

"Neue Realität wie eine Neutronenbombe"

Ähnlich die Einschätzung des Politologen Wladislaw Inosemtsew in einer Analyse für die in Amsterdam erscheinende "Moscow Times" [externer Link]. Russland sei auf dem Weg in die totale Überwachung, mit ungewissem Ausgang: "Moderne Technik macht diesen Weg deutlich weniger aufdringlich als in den faschistischen oder kommunistischen Gesellschaften, die jeder aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts kennt – niemand hört Ihr Telefon ab oder verfolgt Sie –, verleiht solchen Maßnahmen jedoch eine Effizienz, von der die Spione der Vergangenheit nicht einmal zu träumen gewagt hätten."

Das sei ein Unterschied wie der zwischen einer Neutronenbombe und einer Atombombe: Es gebe geringe äußere Zerstörung, aber die Freiheit werde umso effektiver erstickt.

Allerdings seien Russen nicht so leicht unter Kontrolle zu bekommen wie die Chinesen, schränkt Inosemtsew ein: "Sie sind am wenigsten bereit, sich an Regeln zu halten (egal, um welche Regeln es sich handelt) oder die Anerkennung einer Gesellschaft zu suchen, der die meisten von uns mit unverhohlener Verachtung begegnen."

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Peter Jungblut

Massiver Zwang sei vom Kreml bisher "sparsam eingesetzt" worden, argumentiert der Experte: So sei die Teilmobilisierung beendet worden, sobald klar geworden sei, dass der Widerstand der Gesellschaft dagegen gefährlich werden könnte.

"Nicht murren, keinen Lärm machen"

Publizist Andrei Kalitin schrieb sarkastisch [externer Link]: "In einem idealen Russland (wie es die Behörden sehen) muss man ruhig leben. Nicht murren, nicht lärmen, nicht streiten, sich nicht in Gruppen von mehr als drei Personen versammeln, auf den Boden schauen."

Derzeit erinnere ihn die Politik des Kremls an Dostojewskis Roman "Der Jüngling" (1875), wo es um die Orientierungslosigkeit und das geistige Chaos in einer dem Untergang geweihten Gesellschaft geht, so Kalitin: "Russland rebelliert nicht zum ersten Mal gegen die Weltordnung. Doch obwohl es sich auf seine eigenständige Zivilisation beruft, kann es nicht einmal bei sich selbst Ordnung schaffen. Heute ist fast alles in Unordnung." Die Verneinung des Westens sei eine "inhaltsleere" Ideologie.

"Durch Korruption zum Tode verurteilt"

In einem der tonangebenden russischen Diskussionsforen heißt es düster [externer Link], selbst vermeintlich "unerschütterliche" Spielregeln hätten keine Geltung mehr: "War Loyalität gestern noch eine Art Schutzbrief vor Razzien und Besuchen der Sicherheitskräfte, so reicht heute genau diese Loyalität gegenüber der Macht nicht mehr aus. Denn selbst Loyalität muss jetzt vollständig kontrolliert werden, bis ins kleinste Detail, während Loyalen bisher zumindest ein gewisser Spielraum zur Durchsetzung persönlicher Interessen eingeräumt wurde."

Ob dem Kreml die verschärfte innenpolitische Gangart zugutekommt, daran gibt es Zweifel [externer Link]: "Putin hofft, dass er die Stimmung der Bevölkerung mit spektakulären Inhaftierungen und Verhaftungen korrupter Beamter, die derzeit anhalten und sich sogar noch verschärfen werden, verbessern kann. Wird das dem verrotteten System selbst Rettung bringen? Leider nicht mehr, denn es ist durch Korruption zum Tode verurteilt."

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