"Übrigens versuchten sie auch unter dem heute verehrten Iwan dem Schrecklichen (1530 - 1584) zunächst, Russland zu modernisieren und die Beziehungen zum Westen zu stärken, sie begannen sogar, Druckereien zu betreiben, doch dann gingen die in Flammen auf, Iwan musste nach Lemberg fliehen und alles wurde wieder wie früher", spottete der russische Politologe Andrei Nikulin [externer Link] über den jüngsten Versuch des Kremls, die Meinungsfreiheit weiter zu beschneiden.
Die Behörden gingen scharf gegen die in Russland beliebten Messenger-Dienste WhatsApp und Telegram vor, angeblich, weil sie von "Betrügern" und "Terroristen" missbraucht würden. Anrufe mit diesen "feindlichen" Diensten sollen solange untersagt bleiben, bis sich diese an russische Gesetze hielten. Stattdessen sollen die Russen den einheimischen, von den Geheimdiensten überwachten Messenger-Dienst MAX nutzen. Beobachter gehen davon aus [externer Link], dass WhatsApp und Telegram demnächst ganz verboten werden.
"Widerspruch erhöht die Angst"
Das sorgt für erheblichen Unmut, sogar bei regierungstreuen Kommentatoren. Die Wut ist so verbreitet, dass es die Stimmung im Kreml "belaste", heißt es von gut informierten Polit-Bloggern [externer Link]: "Das wird sich negativ auf das Ansehen der Regierung auswirken. Vorerst geht man davon aus, dass es nicht zu Unruhen kommt." Während im Fernsehen im Vorfeld des Treffens zwischen Putin und Trump in Alaska über eine "Normalisierung" spekuliert werde, werde die Zensur verschärft: "Dieser Widerspruch erhöht die Angst und das allgemeine Unverständnis der Bürger."
Politologe Alexander Semenjow schrieb bitter [externer Link]: "Ich persönlich habe keinen Zweifel daran, dass die Amerikaner unsere Medienlandschaft derzeit sehr aufmerksam beobachten. Und ich gehe davon aus, dass sie eine solche Entscheidung keineswegs Putins Autorität und Verhandlungsstärke zuschreiben, ganz im Gegenteil."
Er halte zwar nichts von Verschwörungstheorien, so Semenjow, glaube aber auch nicht an Zufälle: "Es kommt etwas, das die Sperrung von Anrufen in Messengern wie einen unbedeutenden Zwischenfall erscheinen lassen wird."
Auch andere Blogger fragten sich und ihre Leser ironisch, ob die Zensurverschärfung auf eine Destabilisierung Putins hindeutet [externer Link]: "Wer bleibt an der Macht, während der Präsident in den USA ist? Weiß das jemand?"
"Nur Verbote stimulieren unser Volk"
Noch sarkastischer äußerte sich Politologe Georgi Bovt [externer Link]: "Tatsächlich ist die Bekämpfung von Betrug und der Schutz der Bürger allein durch die Blockierung von Anrufen über feindliche Messenger eine unzureichende Maßnahme. Sogar eine halbherzige. Wir müssen die 'Grundursache', wie es heute so schön heißt, bekämpfen und beseitigen. All diese Betrügereien verbrauchen ja Strom. Also: Ran an diese Sache!"
Peter Jungblut
Derart gallig äußerte sich ein weiterer tonangebender Blogger [externer Link]: "Es ist paradox, aber in Russland sind Entwicklung und Fortschritt unter Bedingungen völliger Freiheit unmöglich. Nur Verbote und Beschränkungen stimulieren unser Volk. Zensur führt zur Schaffung kultureller Meisterwerke, und ihre Abwesenheit führt zu einem endlosen Strom minderwertiger Schlacke. Ein Russe empfindet jedes Verbot als Herausforderung. Er zeigt bei nichts so viel Enthusiasmus und Initiative wie bei der Umgehung eines Verbots."
"Spätsowjetische Version der Prawda"
Kommentator Sergei Koljasnikow (435.000 Fans) höhnte [externer Link]: "Auf jeden Fall ist das Informationsparadies für Regierungsbeamte viel näher gerückt. Das Netz wird sich in eine spätsowjetische Version der Prawda verwandeln. Solide positive Berichterstattung und Güte. Zugegeben, der UdSSR hat das nicht geholfen, aber die Geschichte hat schon lange niemanden mehr irgendetwas gelehrt."
"Wenn der Krieg weitergeht – und er wird wahrscheinlich in irgendeiner Form weitergehen –, denke ich, wird das Internet komplett verboten. Mobiles Internet auf jeden Fall", sagte der Politologe Igor Dimitriew [externer Link] voraus und erinnerte ironisch daran, dass in frontnahen Regionen sowieso schon alle Bürgerrechte aufgehoben seien: "Es heißt, es gebe dort ein besonderes Rechtssystem, und jeder Verdächtige könne zwei Monate lang ohne Anklage inhaftiert werden. Das macht das Leben in den neuen Gebieten viel sicherer. Ich bin der Meinung, dass diese Praxis im ganzen Land ausgeweitet werden sollte."
Der St. Petersburger Politologe Michail Winogradow ergänzte [externer Link]: "Das wird als Signal an die Bevölkerung verstanden, die Kommunikation über toxische Themen zu minimieren. Deren Liste wird täglich aktualisiert."
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