Münchner Polizeipräsidium sucht Ex-Finanzchef von "Wirecard"
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Fahndung nach Jan Marsalek
Bildrechte: Daniel Bockwoldt/Picture Alliance
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Jan Marsalek in Moskau enttarnt - was passiert jetzt?

Jan Marsalek in Moskau enttarnt - was passiert jetzt?

Recherchen eines internationalen Journalistenverbundes haben Jan Marsalek in Moskau enttarnt. Der international gesuchte Ex-Wirecard-Manager ist wohl für den russischen Inlandsgeheimdienst tätig. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Bilder zeigen Jan Marsalek, einen der Hauptverdächtigen im Wirecard-Skandal, wie er entspannt mit seiner Geliebten durch Moskau schlendert. Ein Rechercheteam von Journalisten aus mehreren Ländern, darunter vom Spiegel und dem ZDF, hat den seit fünf Jahren von der Münchner Justiz per internationalem Haftbefehl gesuchten ehemaligen Wirecard-Vorstand in Russland aufgespürt. Demnach übernachtet Marsalek regelmäßig bei seiner Geliebten, er hat sich einer Haartransplantation unterzogen und soll mehrfach auf die Krim sowie zum Kampfeinsatz an die russisch-ukrainische Front gereist sein. Bilder zeigen ihn in voller Kampfmontur.

Den Journalisten spielte in die Hände, dass Russland ein Überwachungsstaat ist – inklusive flächendeckender Kameraüberwachung und permanenter Sammlung von Mobilfunk-Daten der Bürger. Diese Daten stellen frustrierte Mitarbeiter oder Hacker häufig ins Netz. Damit ließ sich nachzeichnen, wo sich Marsalek in Moskau aufhält und wie er sich dort bewegt. Besonders häufig steuerte er demnach die Geheimdienstzentrale des FSB in Moskau an, die berüchtigte Lubjanka.

Ist Marsalek Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes FSB?

Dass Marsalek für den FSB arbeitet, ist schon lange offensichtlich. Im Februar 2023 hatten britische Strafverfolger eine Gruppe bulgarischer Agenten auffliegen lassen, die nach Erkenntnissen der Ermittler von Marsalek gesteuert wurde. Im vergangenen Mai verurteilte ein britisches Gericht sechs Mitglieder der Gruppe, alle bulgarische Staatsbürger, in London zu Haftstrafen zwischen fünf und knapp elf Jahren.

Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Gruppenmitglieder von Sommer 2020 bis zu ihrer Festnahme im Februar 2023 für Russland spioniert haben – angeleitet von Marsalek. Ausgekundschaftet haben die verurteilten Agenten unter anderem einen amerikanischen Militärstützpunkt bei Stuttgart.

Und: Die bulgarischen Spione observierten in Absprache mit Marsalek die beiden renommierten Investigativjournalisten Christo Grozev und Roman Dobrokhotov, die beide an der Recherche zur Enttarnung von Marsalek beteiligt waren und schon lange seine Spuren verfolgen. Dadurch gerieten sie offenbar selbst ins Visier. Laut in London von den Strafverfolgern sichergestellten Chats diskutierten Marsalek, der dabei den Tarnnamen Rupert Ticz verwendet haben soll, und Orlin R., der Anführer der Agentengruppe in London, ob man Grozev, der damals in Wien lebte, kidnappen oder ermorden sollte.

War Marsalek schon während seiner Zeit bei Wirecard ein Spion?

Fakt ist, dass sich Marsalek und der IT-Experte Orlin R. lange kennen. Schon 2015 standen die beiden in Kontakt. In E-Mails, die BR Recherche vorliegen, ging es zum Beispiel um robuste und abhörsichere Mobiltelefone. Und mehr noch: BR-Recherchen haben gezeigt, dass Marsalek Mitglieder der bulgarischen Agentengruppe parallel zu seiner Tätigkeit bei Wirecard mithilfe von Geldern des Zahlungsdienstleisters finanziell unterstützt hat.

Mehrmals landeten in Marsaleks E-Mail-Postfach bei Wirecard Rechnungen von Firmen, die Orlin R., Marsaleks Verbindungsmann zur bulgarischen Agentengruppe, zugerechnet werden können. Mal über 30.000 Euro, mal über 90.000 Euro. Angeblich für Beratungsleistungen. Marsalek zeichnete die Rechnungen ab, mahnte mitunter eine sofortige Bezahlung an. Wirecard überwies die in Rechnung gestellten Beiträge.

Spielt Marsalek im Wirecard-Prozess eine Rolle?

Der frühere Wirecard-Vorstand Jan Marsalek gilt weiterhin als Hauptverdächtiger im Wirecard-Skandal. Vor Gericht in München stehen derzeit Markus Braun, Ex-Chef des Zahlungsdienstleisters, Stephan von Erffa, ehemaliger Chefbuchhalter des Konzerns, sowie Oliver Bellenhaus, früherer Wirecard-Statthalter in Dubai. Er gilt als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft.

Die Staatsanwaltschaft hat das Trio unter anderem wegen des Verdachts der Falschdarstellung und des bandenmäßigen Betrugs angeklagt. Marsalek dagegen ist schon im Juni 2020 verschwunden, kurz nachdem das Finanzdebakel bei Wirecard offenbar wurde. Gemutmaßt wurde früh, dass er sich über Minsk nach Moskau abgesetzt hat. Im Prozess hat er sich im Juli 2023 mit einem Brief an das Gericht zu Wort gemeldet. Darin stützt Marsalek im Wesentlichen die Argumentation von Braun. Angedacht war, dieses Schreiben in öffentlicher Verhandlung zu verlesen. Nach Angaben seines Anwalts hat Marsalek dem zugestimmt, passiert ist das bisher nicht.

Gibt es die verschwundenen 1,9 Milliarden Euro doch?

Der Prozess dreht sich seit drei Jahren im Kern um die Frage, ob das Wirecard-Geschäft mit sogenannten Drittpartnern in Asien existiert hat. Diese Partnerfirmen von Wirecard sollten Händlergeschäfte in Regionen abwickeln, wo Wirecard keine Lizenzen hatte. Erlöse daraus sollten als Sicherheiten auf Konten eines Treuhänders zunächst in Singapur, dann auf den Philippinen landen. Doch die Gelder in Höhe von 1,9 Milliarden Euro waren dort nie vorhanden. Das ist mittlerweile belegt.

Laut Staatsanwaltschaft haben die Angeklagten die Geschäfte erfunden, um bei Wirecard florierende Gewinne vorzutäuschen und an Milliardenkredite bei Banken und Investoren zu kommen. So gelang Wirecard nicht zuletzt im September 2018 der Aufstieg bis in den DAX, den Kreis der damals 30 größten börsennotierten Unternehmen in Deutschland.

Markus Braun dagegen vertritt vor Gericht weiter die These, eine Bande rund um den flüchtigen Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek sowie den Mitangeklagten Bellenhaus habe Wirecard zustehende Erlöse aus Drittpartnergeschäften veruntreut und auf Auslandskonten verschiedener Firmen verschoben. Dass auf Konten bei der Wirecard-Bank hunderte Millionen Euro von meist dubiosen Firmen gelandet sind, die dann oft nach Hongkong, auf Antigua oder nach Indonesien flossen, zeigten BR-Recherchen schon 2022. Bis heute ist nicht geklärt, wem diese Gelder zuzurechnen sind.

Wird Marsalek an die deutsche Justiz ausgeliefert?

Dass Marsalek in München vor Gericht gestellt werden kann, ist derzeit unwahrscheinlich. Die Staatsanwaltschaft München hat schon im Frühjahr 2022 in Moskau ein Rechtshilfeersuchen gestellt, um die Auslieferung zu erreichen. Ohne Erfolg. Bisher halten offensichtlich die russischen Geheimdienste ihre Hand über den mutmaßlichen Mitarbeiter.

Laut eines ungeschriebenen Gesetzes lassen russische Dienste ihre Mitarbeiter nicht fallen. Ob das im Fall Marsalek weiterhin gilt, könnte davon abhängen, wie nützlich er für Russland in Zukunft noch ist. Sicher scheint, nach dem Zusammenbruch von Wirecard kann er mögliche Geldflüsse für russische Auftraggeber nicht mehr selbst kontrollieren.

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