Antigua und Barbuda galten lange als Steuerparadies.
Antigua und Barbuda galten lange als Steuerparadies.
Bild
Das Karabik-Paradies Antigua: Hier hat der Glücksspiel-Milliardär Calvin Ayre seine Wahlheimat.
Bildrechte: BBC 2012/BR/Charles Colville
Schlagwörter
Bildrechte: BBC 2012/BR/Charles Colville
Audiobeitrag

Das Karabik-Paradies Antigua: Hier hat der Glücksspiel-Milliardär Calvin Ayre seine Wahlheimat.

Audiobeitrag
> Wirtschaft >

Von Aschheim nach Antigua – der Mann hinter Wirecard

Von Aschheim nach Antigua – der Mann hinter Wirecard

Calvin Ayre – mit Online-Glücksspiel ist der Unternehmer reich geworden. Jetzt zeigen BR-Recherchen: Mit Hilfe von Wirecard schickte er hunderte Millionen um die Welt. Ein zentrales Rätsel um die Geldflüsse bei dem Pleite-Konzern ist damit gelöst.

Über dieses Thema berichtet: BR24 Radio Nachrichten am .

Seit mehr als 230 Verhandlungstagen läuft am Landgericht München der Wirecard-Prozess. Unstrittig ist inzwischen: 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten in Singapur und später auf den Philippinen aus dem Geschäft mit sogenannten Drittpartnern haben nie existiert. "Das können wir mittlerweile alle nicht abstreiten, das ist offensichtlich", räumt Theres Kraußlach ein, die Verteidigerin von Markus Braun.

Der Ex-Wirecard-Vorstandschef und zwei frühere Manager des Zahlungsdienstleisters sind unter anderem wegen bandenmäßigen Betrugs angeklagt. Weil die Treuhand-Milliarden nicht auffindbar waren, kollabierte der Aschheimer Zahlungsdienstleister im Juni 2020.

Was aber ist mit den hunderten Millionen Euro, die über Konten der ausländischen Drittpartner bei der Wirecard-Bank geflossen sind? Diese Drittpartner sollten vor allem in Asien Zahlungen abwickeln. 2022 hat der BR eine erste Recherche dazu veröffentlicht. In Summe sollen auf den Konten dieser Firmen rund zwei Milliarden Euro eingegangen sein, wie die Anwälte von Markus Braun errechnet haben. Er behauptet: Diese Gelder gehörten Wirecard. Aber eine Bande um den flüchtigen Ex-Wirecard-Manager Jan Marsalek habe das Geld veruntreut.

Die Spur des Geldes führt zu Calvin Ayre

Seit Jahren verfolgen Reporter von BR Recherche die Spur des Geldes. 2022 finden sie E-Mails von Jan Marsalek mit Excel-Listen sämtlicher Überweisungen bei der Wirecard-Bank aus dem Jahr 2018 - etwa 500.000 Transaktionen. Eine Analyse dieser Daten zeigt, dass Briefkastenfirmen in Prag, Podgorica in Montenegro und anderswo in der Welt hohe Millionenbeträge an die angeblichen Wirecard-Drittpartnerfirmen überwiesen haben. Wirecard sei ein "Sammelpunkt für diese Gelder, etwa aus illegalem Glücksspiel, gewesen", erklärt ein Insider diese Überweisungen. Er will anonym bleiben.

Die Reporter haben in den vergangenen Jahren weitere Kontounterlagen und Dokumente eingesehen, mit zahlreichen Konzern-Kennern gesprochen, sich mit Expertinnen und Experten im In- und Ausland ausgetauscht. So können sie nachvollziehen, wem große Teile der Gelder auf den Konten bei der Wirecard-Bank gehören: Calvin Ayre, ein schillernder Glücksspiel-Unternehmer und Bitcoin-Investor aus Kanada, der seit vielen Jahren auf Antigua lebt. Allerdings sind die Verbindungen zu ihm nicht offensichtlich: Die Ein- und Auszahlungen bei der Wirecard-Bank laufen über komplexe Firmenstrukturen und meist mehrere Länder.

Calvin Ayre und ein Deal mit der US-Justiz

Mit Online-Glücksspiel hat es Calvin Ayre, Sohn eines kanadischen Schweinefarmers, zum Milliardär gebracht. 1994 gründet er die Gambling-Plattform Bodog und baut ein Glücksspiel-Imperium auf. 2012 klagen US-Behörden Calvin Ayre und drei Mitarbeiter wegen illegalen Glückspiels und Geldwäsche an und ziehen 66 Millionen US-Dollar Spieleinsätze von Konten seiner Plattform Bodog ein. Zeitweise steht Ayre in den USA auf der "Most Wanted List" der Einwanderungs- und Zollbehörde ICE. 2017 macht er einen Deal mit der Justiz: Er räumt einen der Vorwürfe ein und zahlt eine Geldstrafe in Höhe von 500.000 US-Dollar. Die 66 Millionen US-Dollar bleiben eingezogen.

Millionen landen in der Karibik

Die Reporter verfolgen die Wege des Geldes weiter. Die Wirecard-Bank-Daten zeigen, wohin große Summen geschleust werden Alleine rund 135 Millionen Euro fließen über Konten, die angebliche Drittpartner bei der Wirecard-Bank hatten, nach Antigua. Empfänger sind neun Firmen, die meisten haben ihren Sitz im sogenannten "Fitzgerald House" in der 44 Church Street in St. Johns. Im Unternehmensregister von Antigua sind lediglich zwei dieser Firmen registriert - und das erst seit 2020.

Im "Fitzgerald House" residiert die Anwalts- und Notarkanzlei "Cort&Cort". Dahinter steht Errol Cort, Antiguas früherer Finanzminister und nach Calvin Ayres eigenen Worten sein "Anwalt und bester Freund". So steht es in einer E-Mail, die Calvin Ayre verschickt hat - an Christen Ager-Hanssen. Der Unternehmer und Investor aus Norwegen hat fast ein Jahr lang für Calvin Ayre an zentraler Stelle gearbeitet. Im Interview mit report München äußert er sich erstmals zu den Verbindungen zwischen Ayre und Wirecard.

Der Insider bestätigt, die Firmen in der 44 Church Street auf Antigua seien dem Glücksspiel-Mogul Calvin Ayre zuzurechnen: "Sein Problem war, dass er über viel Geld verfügt, einen enormen Cashflow hat, diesen aber weiterleiten muss, ohne dass er jemals in seinem eigenen Namen auftritt. Dies geschieht über verschiedene Strukturen. In einer dieser Strukturen ist der ehemalige Finanzminister von Antigua, Errol Cort, involviert." Ayre habe Wirecard gebraucht, wie auch Wirecard ihn gebraucht habe, so Christen Ager-Hanssen weiter. Ohne den Zahlungsdienstleister sei das Business des Glücksspiel-Moguls seiner Einschätzung nach nicht möglich gewesen.

Bildrechte: Quelle: Privat
Bildbeitrag

Calvin Ayre und Christen Ager-Hanssen

Weitere Geldflüsse zu Calvin Ayre

Den Kontounterlagen zufolge sind hohe Summen nicht nur nach Antigua geflossen, wo Calvin Ayre bis heute lebt. In den Überweisungsdaten finden sich auch Firmen, die unmittelbar mit den Online-Glücksspielgeschäften von Calvin Ayre in Verbindung stehen. So flossen 6,6 Millionen Euro zu einer Software-Firma aus Spanien namens RGT Desarollo Informatico. Eine Tyche Consulting aus Manila hat schon 2014 fast 8 Millionen Euro erhalten. Auch hier führen die Spuren zu Ayre.

Hunderte Millionen Euro sind von der Wirecard-Bank aus auch nach Hongkong geflossen, vor allem zur Firma Pittodrie Finance Limited. Nach Berechnungen des BR auf Basis der vorliegenden Belege sind es über 177 Millionen Euro. Dieses Geld gehört nach BR Recherchen ebenfalls Calvin Ayre und stammt nicht, wie Markus Braun es darstellt, aus dem Wirecard-Drittpartner-Geschäft.

Die Pittodrie Finance Limited ist ein Investment-Vehikel der Monterosa Group aus Zürich, die das Vermögen angelegt hat. Die Spur der Überweisungen führt zum Züricher Vermögensverwalter Fairway Family Office. Von dort aus agiert nach Worten von Christen Ager-Hanssen jemand, der als "Mastermind" hinter Calvin Ayres Finanzgeschäften gilt. Auf Anfrage zu den Hintergründen des Geldflusses erklärt die Firma, dass Banken Zahlungen abwickeln, sei "Teil ihrer üblichen Geschäftstätigkeit". Antworten auf konkrete Fragen bekommt der BR nicht. "Calvin war dafür bekannt, eines der größten Gambling-Unternehmen der Geschichte aufgebaut zu haben. Und durch dieses System floss eine Menge Geld. Das begann über Wirecard zu laufen. Er war der Mann hinter Wirecard", so beschreibt Christen Ager-Hanssen dessen Rolle.

Auch an Calvin Ayre selbst gehen Überweisungen. In den Kontounterlagen ist vermerkt, dass an einen "Calvin Wilson" mit Wohnsitz auf den Philippinen mehrfach Geld transferiert worden ist. Nach BR-Recherchen hat Ayre diesen Namen als Alias verwendet.   

Hinweis kommt von Marsalek

Ein Hinweis auf diese Finanz-Struktur kommt ausgerechnet von Jan Marsalek: Im Juli 2023, gut ein halbes Jahr nach Beginn des Prozesses, wendet sich der flüchtige Wirecard-Manager über seinen Anwalt in einem achtseitigen Brief an das Landgericht München.

Darin steht unter anderem, im Hintergrund des angeblichen Drittpartnergeschäfts habe "de facto ein einziger Kunde" gestanden, und Marsalek habe "mit einem kanadischen Kunden dessen gesellschaftsrechtliche Strukturen" neu aufgebaut. Marsaleks Anwalt äußert sich diesem Sachverhalt auf Anfrage des BR nicht.

Wie Wirecard von Geldflüssen profitiert hat

Wirecard hat so Calvin Ayre ermöglicht, Zahlungen über angebliche Drittpartnerkonten zu schleusen. Hat auch Wirecard von diesen Geldflüssen profitiert? Tatsächlich dienten Überweisungen auf Konten von Drittpartnern bei der Wirecard-Bank den Wirtschaftsprüfern von EY als Beleg für ein existierendes Drittpartnergeschäft des Aschheimer Zahlungsdienstleisters. Dieser konnte so kaschieren, dass diese Geschäfte frei erfunden waren.

So ist in dem geheimen "Wambach-Bericht" für den Wirecard-Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag vermerkt, die Wirtschaftsprüfer hätten Kontoauszüge der Wirecard-Bank eingeholt - als Nachweis "über Zahlungseingänge bei Wirecard, die dem TPA-Geschäft zugeordnet werden", das heißt dem Drittpartnergeschäft EY teilt dem BR auf Anfrage mit, die Prüfer hätten "auch im beschriebenen Kontext nach den geltenden berufsrechtlichen Standards geprüft".

Die Staatsanwaltschaft München I macht "aufgrund des laufenden Prozesses keine weiteren Angaben" zu dem Themenkomplex. Braun-Anwältin Theres Kraußlach betont im Interview mit dem BR, ihr Mandat habe von diesen Vorgängen nichts gewusst und: "Er ist selbst im Grunde Opfer einer Straftat geworden."

Keine Drehgenehmigung - Antigua will "positive Berichterstattung"

Errol Cort und Calvin Ayre ignorieren die Anfragen, die ihnen der BR an mehrere E-Mail-Adressen schickt. Ayre reagiert auch auf mehrere Anrufe und SMS-Nachrichten nicht.

Eine Drehgenehmigung für Antigua bekommt report München ebenfalls nicht. Der dafür zuständige "Media Commissioner" teilt in einem Telefonat mit, für ein Interview mit Ayre sei eine offizielle Einladung von ihm notwendig. Außerdem wolle Antigua in den Medien ausschließlich positiv dargestellt werden.

Hinweise?

Wir recherchieren: Wer Hinweise an BR Recherche/BR Data hat, kann die Redaktion auf verschiedenen Wegen erreichen. Der BR hat auch einen anonymen Briefkasten für besonders sensible Informationen.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!