Es ist kurz nach 20 Uhr. Seit gut zwei Stunden sind die Schlosstore für Besucher geschlossen. Dris Bichri greift zu seiner Taschenlampe und seinem wichtigsten Arbeitsgerät – dem Generalschlüssel für Schloss Neuschwanstein. "Damit komme ich überall rein", sagt Bichri. "Ins ganze Reich." Dann bricht er zu seinem ersten Rundgang auf. Dreimal in der Nacht muss Bichri im Schloss nach dem Rechten sehen. 200 Räume, hunderte Treppenstufen, unzählige Türen und sieben Kilometer Strecke – der Nachtwächter hat jede Nacht so einiges vor.
Wasserrohrbruch im Neuschwanstein-Keller
Der Rundgang beginnt, wo kein Tourist hinkommt: im Keller. Zu Ludwigs Zeiten war hier eine eigene Schlossmetzgerei geplant. Heute dient das dunkle Gemäuer als Lagerfläche. In einem Nebenraum kontrolliert Dris Bichri die Heizungsanlage. Hier stand nach einem Rohrbruch schon mal das Wasser. "Gott sei Dank hab ich's gemerkt", sagt Bichri. Eine ganze Nacht habe er damals damit verbracht, Wasser zu schippen. 500 Kübel seien zusammengekommen. Er schaut hinter jede Tür, überall kann eine Überraschung lauern.
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Rundgang durchs menschenleere Schloss
Weiter geht es in den Führungsbereich. Wo sich tagsüber bis zu 5.000 Besucher in den prachtvollen Räumen der Königswohnung, im Thronsaal oder im Sängersaal tummeln, darf jetzt niemand mehr sein. Dris Bichri leuchtet mit seiner Taschenlampe zu jedem Fenster und kontrolliert, ob sie auch fest verschlossen sind. Nicht, dass nachts jemand einsteigt oder der Regen etwas beschädigen könnte.
Nachts ist Bichri allein verantwortlich für das gesamte Schloss. Der 63-Jährige nimmt seine Aufgabe sehr ernst: "Ich habe Respekt und passe auf das Schloss auf." Im Ernstfall würde er sogar sein Leben riskieren für das Bauwerk, versichert Bichri. "Ich gebe alles!"
Unterwegs zu den unbekannten Orten im Schloss
Der Rundgang führt den Nachtwächter überall hin – auch an die geheimen Orte. Vor einer großen, eisenbeschlagenen Holztür im Torbau bleibt Bichri stehen und steckt den Generalschlüssel ins Schloss. "Wir gehen jetzt in das Königsappartement", kündigt er an. Hier im Torbau hatte König Ludwig II. anfangs gewohnt und von seinem Arbeitszimmer aus die Bauarbeiten an seinem Schloss überwacht. Die schweren Eichenholzmöbel sind zum Schutz mit weißen Tüchern abgedeckt, die kostbaren Wandmalereien lassen sich im Schein der Taschenlampe nur erahnen. Hier kommen keine Besucher rein.
Nachtwächter: "Die Nachtschicht ist einmalig!"
Seit 23 Jahren arbeitet Dris Bichri im Schloss. Er liebt seinen Job. "Besser kann es nicht sein." Angebote von anderen Firmen mit besserer Bezahlung hat er schon ausgeschlagen. "Ich bleibe hier. Mein Herz schlägt für dieses Schloss!"
Weiter geht es über unzählige Treppen durch die große Königswohnung, den Thronsaal und den Sängersaal. Eines darf für Bichri auf seiner Runde durch das Schloss aber auf keinen Fall fehlen: eine kurze Pause auf dem Besucherbalkon mit dem sagenhaften Ausblick auf das benachbarte Schloss Hohenschwangau, den malerisch gelegenen Alpsee und die Allgäuer Berge. "Die Ruhe – das ist der Wahnsinn", sagt Bichri. Tagsüber ist um das Schloss immer viel los. Jetzt ist alles friedlich und still. "Die Nachtschicht – das ist einmalig!"
Neuschwanstein ist "der beste Arbeitsplatz"
Zwischen seinen drei Rundgängen sitzt Bichri in seinem Büro und behält die Überwachungskameras im Blick. Das Schloss darf er während seiner Schicht nicht verlassen. Nachts allein durch Neuschwanstein zu wandeln – das fasziniert den Nachtwächter jedes Mal aufs Neue. "Wie am ersten Tag. Das baut die Seele auf", sagt Bichri. "Das ist einfach schön – und der beste Arbeitsplatz."
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