Perfekt inszenierte Tanzvideos und harmlose Reiseclips: Aus solchen scheinbar beiläufigen Social-Media-Inhalten entsteht ein neues, emotional wirkendes Propagandabild von Russland im Land selbst, aber auch bei uns. Im Mittelpunkt steht dabei weniger der Krieg gegen die Ukraine, sondern das Gefühl, dass Russland ein sicheres und stolzes Land sei – und wie toll es sei, Russe zu sein.
Influencer als Propagandawerkzeug
Natalia Korotkova sammelt seit Wochen Videos, die sie als Teil einer Propagandawelle versteht. Sie ist im Vorstand des Münchner Vereins "Free Russians e. V.", in dem sich russische Oppositionelle versammeln, um sich gegen den Krieg in der Ukraine und für einen demokratischen Wandel in Russland einzusetzen.
In einem Clip zeigt ein Mann im Selfiemodus ein Auto (externer Link), in dem eine auffällige Luxus-Tasche von Louis Vuitton und mehrere Pakete auf dem Beifahrersitz liegen. Es steht auf einem Parkplatz im Zentrum von Moskau. Der Mann erklärt auf Englisch: "Versuch das mal in einer anderen europäischen Haupstadt."
Auf Instagram erreichen solche Videos Zehntausende Likes. Für Korotkova sind sie kein Zufall, sondern Teil einer gezielten Kampagne: Reiseblogger aus den USA, Großbritannien oder Deutschland zeigen, wie schön und vor allem wie sicher russische Städte seien.
Die Parallelen zwischen den Clips sind unübersehbar – und genau das mache sie misstrauisch, erklärt Korotkova. "Ich kann nur Vermutungen anstellen. Ich habe mir auch ein paar Quellen angeschaut, die sich mit dem gleichen Thema auseinandergesetzt haben. Es gibt wohl Firmen in Russland, die gezielt sich Menschen auf diversen Plattformen buchen und dann sagen die in die Kamera das, was du von ihnen verlangst."
Ästhetik statt Argumente
Doch die Propaganda erschöpft sich nicht in Reisestorys. In Russland selbst verlagert sie sich zunehmend auf Musik, Tanz und visuelle Inszenierung. In einem populären Video tanzt ein Paar am eisigen Nordpol (externer Link). Er trägt ein traditionelles, rot verziertes Hemd, sie ein volkstümlich inspiriertes, knielanges Kleid und hohe rote Schuhe, als spürten beide die Kälte nicht. Unterlegt ist das Ganze mit moderner, technoartig bearbeiteter russischer Folklore. Das Video hat Zehntausende Likes – und kommt fast ohne Worte aus.
Für Korotkova ist genau das der Punkt: Diese Inhalte zielen nicht auf Fakten, sondern auf Emotionen. Propaganda soll nicht überzeugen, sie soll ein Gefühl erzeugen. Wer solche Clips sehe, denke am Ende vor allem eines: Dass es sich "geil" anfühle, Russe zu sein.
Inszenierte Gemeinschaft im Alltag
Neben Influencer-Content und Tanzvideos spielen in Russland selbst auch organisierte Singevents eine Rolle. Immer wieder tauchen Videos von scheinbar spontanen Gesangsaktionen in russischen Städten auf. Vieles deutet darauf hin, dass solche Veranstaltungen zumindest mit staatlicher Unterstützung stattfinden. Die Botschaft: Gemeinschaft, Einigkeit, gute Stimmung – trotz Krieg, Repression und wirtschaftlicher Probleme.
Korotkova geht davon aus, dass diese Aktionen vor allem eines sollen: die Stimmung im Land stabil halten. Menschen, die den Kurs der Regierung passiv oder aktiv unterstützen, sollen sich bestätigt fühlen, "das Richtige" zu tun.
Propaganda im Familienchat
Wie wirksam diese Strategie ist, erlebt Korotkova in ihrem eigenen Umfeld. Im Austausch mit Freunden und Verwandten in Russland – per Messenger oder Telefon – stößt sie häufig auf Ablehnung, sobald sie die Propaganda direkt anspricht. Viele wollten schlicht nicht darüber reden. Andere Gespräche eskalierten schnell. "Gerade, wenn es um Familienangehörige geht, wird da auch mit großen Beleidigungen reagiert", erzählt sie.
Die emotionale Kraft der Propagandabilder macht es schwer, mit rationalen Argumenten dagegen anzukommen. Wo Nachrichten und Hintergründe nicht mehr ankommen, bleiben Clips und Gefühle hängen.
Widerstand aus München
Trotz dieser Erfahrungen wollen Korotkova und die Mitglieder von Free Russians e. V. nicht nachgeben, denn immer wieder kommen dann doch, oft erst nach einigen Monaten, Rückmeldungen von Personen, die ihnen sagen: "Danke für eure Denkanstöße, ihr hattet recht."
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