Mitarbeit: Derek Bowler (EBU), Maria Flannery (EBU), Eva Wackenreuther (ORF), Kathrin Wesolowski (DW), Alima de Graaf (DW), Daan Nicolay (VRT) im Rahmen der Kooperation "Eurovision News Spotlight".
Darum geht’s:
- Videos der israelischen Regierung streuen Zweifel an Berichten über Nahrungsmittelknappheit in Gaza.
- Diese ist jedoch gut belegt, laut UN sind 1,9 Millionen Bewohner Gazas in Hungersnot oder davon bedroht.
- Offizielle Dokumente belegen, dass die israelische Regierung und Google im Juni einen Werbedeal über fast 40 Millionen Euro geschlossen haben.
Die Bevölkerung im Gazastreifen leidet an Hunger. In einem am 22. August veröffentlichten Bericht erklärte die IPC-Initiative der UN, die weltweit als Instanz für Ernährungssicherheit gilt: "Mit Stand vom 15. August 2025 ist die Hungersnot (IPC Phase 5) – auf der Grundlage ausreichender Beweise– im Regierungsbezirk Gaza bestätigt. Nach 22 Monaten unablässigen Konflikts sind mehr als eine halbe Million Menschen im Gazastreifen mit katastrophalen Bedingungen konfrontiert, die von Hunger, Verelendung und Tod geprägt sind."
Einen Tag bevor die IPC-Bewertung veröffentlicht wurde, startete die Israeli Government Advertising Agency (IGAA) eine Kampagne mit zwei Videos. Eines der Videos zeigte belebte Märkte voller Lebensmittel in Gaza, während das andere geöffnete Restaurants innerhalb des Gebiets präsentierte. Die Videos enthielten eingeblendeten Text und eine KI-generierte Stimme, die mit dem Satz endeten: "Es gibt Lebensmittel in Gaza. Jede andere Behauptung ist eine Lüge."
Vielen Menschen in Gaza fehlen Lebensmittel - anders, als hier impliziert.
Eine Recherche, die im Rahmen einer internationalen Kooperation von "Eurovision News Spotlight" entstand, und an der auch der #Faktenfuchs mitgearbeitet hat, zeigt nun: Die Videos sind Teil einer gezielten und koordinierten Werbekampagne der israelischen Regierung, die Zweifel an der Hungersnot in Gaza streuen soll.
Israel zahlte fast 40 Millionen Euro an Google
Bereits im Juni genehmigte eine von der israelischen Regierung eingesetzte Kommission, die in Sicherheitslagen über Abweichungen von normalen Vorgängen entscheidet, einen Antrag der Israeli Government Advertising Agency (IGAA) mit Google, X (ehemals Twitter) sowie den französischen und israelischen Werbeplattformen Outbrain/Teads zusammenzuarbeiten. Ziel war es, öffentliche Informationskampagnen im Wert von 167 Millionen Schekel (42,5 Mio. €) durchzuführen, wie ein offizielles Dokument zeigt.
Die genehmigten Verträge laufen vom 17. Juni bis zum 31. Dezember 2025. Davon wurden 150 Millionen Schekel (ca. 38,2 Mio. €) für YouTube und Googles Werbeplattform Display & Video 360 veranschlagt, weitere 10 Millionen Schekel (2,55 Mio. €) für Kampagnen auf X. Die französisch-israelischen Plattformen Outbrain/Teads erhielten sieben Millionen Schekel (1,785 Mio. €).
Millionen Aufrufe für israelische Werbekampagne
Die Videos der IGAA von Märkten und Restaurants zeigen echtes Material, lassen aber entscheidenden Kontext aus. Insgesamt erzielten die Videos der Kampagne mehr als 18 Millionen Aufrufe. Sie wurden auf dem offiziellen, verifizierten YouTube-Kanal des israelischen Außenministeriums veröffentlicht. Das erste Video, ein englischsprachiger Clip, der Restaurants in Gaza zeigt, wurde am Abend des 21. August veröffentlicht. Am nächsten Tag erschienen Versionen auf Italienisch, Deutsch und Polnisch. Laut Googles Ad Transparency Center richtete sich die bezahlte Kampagne an Zielgruppen in Deutschland, Österreich, Italien, Polen, dem Vereinigten Königreich und den USA. Die Anzeigen für Deutschland und Österreich sind mit Stand 8. September 2025 nicht mehr in Googles Ad Transparency Center aufzufinden.
Restaurants sind echt, Hunger auch
Einige der im Video gezeigten Szenen sind auf den Social-Media-Konten der vorgestellten Restaurants zu finden. Das hat eine Überprüfung durch die Eurovision News Spotlight-Gruppe ergeben. Wir konnten bestätigen, dass es sich bei den im Video gezeigten Restaurants um echte Lokale in Gaza-Stadt handelt. Zwar wurde nicht sämtliches Material im Juli aufgenommen, wie in der Werbung behauptet, doch der Großteil wurde im Juni oder Juli dieses Jahres veröffentlicht. Neuere Beiträge auf den Konten der Restaurants deuten darauf hin, dass zumindest einige von ihnen Ende August noch geöffnet waren.
Dass Restaurants in Gaza geöffnet sind, bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass keine Hungersnot herrscht – entgegen der impliziten Botschaft der Werbung. Mehrere Restaurantbesitzer berichteten gegenüber Eurovision News Spotlight von Problemen mit Versorgung und Inflation, die zu zeitweisen Schließungen führten. Augenzeugen und Experten sagen in Interviews für diese Recherche zudem, dass Lebensmittel in Restaurants und auf Märkten aufgrund der Knappheit zu deutlich überhöhten Preisen verkauft würden.
Eine Nutella-Waffel für 25€
Die Eurovision News Spotlight-Gruppe nahm im Zuge ihrer Recherchen Kontakt zu allen Restaurants und Cafés auf, die in der israelischen Werbung gezeigt werden. Eine Mitarbeiterin namens Hala vom Café Estkana im Stadtteil Rimal von Gaza-Stadt schrieb, dass das Café zwar betrieben werde, jedoch oft für mehrere Tage aufgrund von Lieferengpässen schließe und je nach verfügbaren Zutaten eine wechselnde Speisekarte anbiete. Sie erwähnte, 25-kg-Säcke Mehl würden für mehrere Hundert Euro verkauft, wobei die Preise je nach Versorgungslage täglich schwankten.
Das hier gezeigte Café ist echt. Doch nur sehr wenige Bewohner des Gaza-Streifens können sich das Essen dort leisten.
Auf der Speisekarte des Cafés stand diesen Sommer der Mitarbeiterin zufolge beispielsweise eine Nutella-Waffel für 25 Euro. "Wir bekommen alles in Gaza nur mit großer Mühe – ob Mehl, Lebensmittel oder andere Nahrungsmittel. Ich versuche, Lebensmittel auf sehr schwierige Weise zu beschaffen und bekomme sie zu einem deutlich höheren Preis als normal. Zum Beispiel kostet mich ein Mehlsack 1.000 Schekel (255 €). Ein weiteres Beispiel ist Nutella. Obwohl es boykottiert wird, gibt es für uns in Gaza keine Alternative. Ich kann eine Kiste für 1.000 Schekel kaufen", sagte sie.
"Sie sind von Hilfslieferungen abhängig. Sie haben kein Geld."
Mohammed Abu Saif ist ein Journalist aus Gaza. Seit 2010 berichtet er über die Situation vor Ort. Inzwischen unterstützt er die Berichterstattung des BR von Deutschland aus und pflegt weiterhin intensiven Kontakt in den Gazastreifen. Er sagt: "Die meisten Menschen können sich die Restaurants nicht leisten".
Vor dem Krieg seien die meisten Bewohner Gazas von den täglichen Einnahmen ihrer Arbeit abhängig gewesen. "Jetzt arbeiten 70 bis 80 Prozent der Menschen gar nicht. Sie sind zu 100 Prozent von Hilfslieferungen abhängig. Sie haben kein Geld", sagt Abu Saif im Interview mit dem #Faktenfuchs.
Ein weiteres Restaurant, das im Video auf dem Kanal des israelischen Außenministeriums vorkommt, ist das O2-Restaurant in Gaza-Stadt. In einem Facebook-Kommentar beschreibt der Account des Restaurants auf Nachfrage eines Nutzers die Notlage in Gaza : "Es herrscht eine echte humanitäre Krise, und viele Menschen leiden unter einem gravierenden Mangel an Nahrung, Wasser, Medizin und grundlegenden Gütern. (…) Wir versuchen zu leben und Momente der Schönheit und Hoffnung inmitten der Zerstörung zu teilen, weil das Leben weitergehen muss."
1,9 Millionen Menschen in Hungersnot - oder davon bedroht
Die Integrated Food Security Phase Classification (IPC) stuft Hungersnot als "Phase 5" ein, während "Phase 4" einen Notstand bezeichnet. Laut ihrer Einschätzung befindet sich ein Teil des Gazastreifens, einschließlich Gaza-Stadt, in der Hungersnot-Zone. Die IPC warnt zudem, dass die Gebiete Deir al-Balah und Khan Younis bis Ende September die Hungersnot-Schwelle erreichen könnten, wenn sich die aktuellen Trends fortsetzen. Zusammen leben in diesen drei Regionen 1,9 Millionen Menschen. Damit ein Gebiet als IPC-Phase 5 eingestuft wird, müssen 20 Prozent der Haushalte von extremem Nahrungsmangel betroffen sein und 30 Prozent der Kinder an akuter Mangelernährung leiden.
Für ihre Bewertung misst die IPC über mehrere Monate hinweg die Häufigkeit akuter Mangelernährung. Die Lage verschlechterte sich seit dem Frühjahr erheblich, als Israel eine vollständige Blockade des Gazastreifens verhängte. Auch die Kalorienaufnahme der Bevölkerung und der Zugang zu verschiedenen Lebensmittelgruppen fließen in die Einstufung ein.
Dass die israelische Kampagne in mehreren Sprachen ausgespielt wurde, deutet auf eine gezielte Ansprache hin, um die Wahrnehmung in Europa und der Welt in einer politisch sensiblen Phase zu beeinflussen. Zwei deutschsprachige Videos, die als Werbung vor YouTube-Clips und in Google-Produkten in Deutschland und Österreich geschaltet wurden, erzielten zusammen 3,5 Millionen Aufrufe.
Google reagierte nicht auf eine Anfrage um Stellungnahme. Die israelische Botschaft in Berlin verwies auf Anfrage lediglich auf einen offenen Brief und einen X-Post des israelischen Außenministeriums. Darin kritisiert das Außenministerium die IPC für ihre Analyse der Lebensmittelversorgung in Gaza. Die IPC ging in einer Antwort auf Kritikpunkte am Bericht ein.
Auch Bilder von Märkten widerlegen Hunger nicht
Am 24. August veröffentlichte das israelische Außenministerium ein zweites Video auf Deutsch und in mehreren weiteren Sprachen. Es zeigt Obst, Kekse, Konserven und Aufnahmen von Menschen beim Einkaufen auf Märkten, die angeblich in Gaza liegen. Nicht jedes Bild ließ sich unabhängig verifizieren. Ein beträchtlicher Teil des Filmmaterials wurde vom palästinensischen Journalisten Majdi Fathi aufgenommen. In einem Interview mit DW Fact Check bestätigte er, kürzlich Aufnahmen auf dem Al-Sahaba-Markt in Gaza-Stadt gemacht zu haben. Er fügte jedoch hinzu: "Diese Früchte und Gemüse sind sehr teuer" und "die Mehrheit der Menschen in Gaza kann sie sich nicht leisten".
Auch einige Aufnahmen des Al-Sahaba-Marktes in Gaza sind echt. Dennoch leidet ein großer Teil der Bevölkerung in Gaza an Hunger.
Auf seinem Instagram-Account veröffentlichte Fathi zudem Bilder, die das Leid der hungernden Bevölkerung dokumentieren. Er erklärte: "Was in Gaza fehlt, sind andere Lebensmittel wie Fleisch, Milch, Reis und Eier."
Ein Kilo Tomaten für 25€
Die hohen Lebensmittelpreise setzen die mehrheitlich vertriebene Bevölkerung des Gazastreifens unter Druck. Ein großer Teil ist arbeitslos und ohne regelmäßiges Einkommen. Bereits Anfang des Jahres schätzte das UN-Büro OCHA, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung des Gebiets "vollständig von Nahrungsmittelhilfe abhängig, obdachlos und ohne Einkommen" sei.
Der palästinensische Journalist Hatem Hany Rawagh, der seit dessen Ausbruch vom Krieg berichtet, nannte uns am 2. September die Preise auf einem Markt in Gaza und erklärte, dass bestimmte Waren nicht erhältlich seien, etwa Zucker, Kartoffeln und Zwiebeln. Ein Kilo Tomaten kostete demnach 25 Euro, eine Dose Nescafé 30 Euro, und ein 25-kg-Sack Mehl fast 60 Euro.
"Der Hunger ist präsent, und das, was auf den Märkten verfügbar ist, wird zu sehr hohen Preisen verkauft", sagte er. Außerdem gebe es kein Fleisch und keine nahrhaften Früchte.
Israels Historie irreführender Werbekampagnen
Die jüngste Kampagne ist nicht die erste irreführende Werbeaktion Israels in den vergangenen Wochen und Monaten. Bereits Anfang August wurden Anzeigen auf Google geschaltet, die Videos bewarben, in denen behauptet wurde, ein Bild von hungrigen Menschen mit ausgestreckten Armen an einer Ausgabestelle für Hilfsgüter sei gestellt gewesen. Diese Behauptung wurde von Deutsche Welle Faktencheck widerlegt.
In einer weiteren Kampagne, die Ende August begann und bis September andauerte, veröffentlichte die israelische Regierungs-Werbeagentur IGAA eine Anzeige, die einen Artikel auf einer Regierungswebsite bewarb. Die Anzeige behauptete, dem IPC-Bericht zur Hungersnot in Gaza fehle es möglicherweise an Neutralität und strenger Methodik. Sie erschien prominent über den Google-Suchergebnissen zum IPC-Bericht selbst.
Die israelische Regierung verhängte am 2. März eine vollständige Blockade des Gazastreifens. Einige Mitglieder der israelischen Regierung sprechen offen darüber, Hunger als Teil der Kriegsführung einzusetzen. Nachdem der Chef des israelischen Militärs IDF Eyal Zamir den Ministern im Juli mitgeteilt hatte, dass das Militär sich über den Zeitplan für die Evakuierung der Bevölkerung von Gaza-Stadt nicht sicher sei, zitierte der Nachrichtensender Channel 12 Finanzminister Bezalel Smotrich mit den Worten: "Wir haben euch eine schnelle Operation befohlen. Meiner Meinung nach könnt ihr sie belagern. Wer nicht evakuiert, darf nicht herausgelassen werden. Kein Wasser, kein Strom – sie können verhungern oder kapitulieren."
Fazit
Die von der israelischen Regierung verbreiteten Videos zeigen zwar reale Orte in Gaza, verschweigen aber den gut dokumentierten Nahrungsmangel für den Großteil der Bevölkerung. 1,9 Millionen Menschen im Gazastreifen leben in Gebieten, die laut der UN die Kriterien für eine Hungersnot erfüllen oder davon bedroht sind. Die Videos sind Teil einer groß angelegten Werbekampagne in mehreren europäischen Ländern, für die die israelische Regierung Google fast 40 Millionen Euro bezahlte.
Quellen:
Interviews/Presseanfragen:
Anfrage beim Café Estkana
Anfrage bei der israelischen Botschaft in Berlin
Interview mit Hatem Hany Rawagh
Interview mit Mohammed Abu Saif
Veröffentlichungen
IPC Bericht: "Famine Review Committee: Gaza Strip, August 2025", 22.08.2025
IPC: "Gaza Strip: Acute Food Insecurity Situation from 1 July - 15 August 2025 and Projection for 16 August - 30 September 2025", 22.08.2025
IPC: "Fact Sheet The IPC Famine", Stand August 2025
IPC: "Response to Issues Raised Following IPC’s Famine Classification in the Gaza Strip", 30.08.2025
UNRWA: "UNRWA Situation Report #159 on the Humanitarian Crisis in the Gaza Strip and the West Bank, including East Jerusalem", 13.02.2025
The Guardian, "My life behind the lens: one year reporting from the war in Gaza - video", 07.10.2024
Deutsche Welle: "Fact check: Gaza famine photos not staged", 15.08.2025
Deutsche Welle: "Fact check: Netanyahu’s disinformation about famine in Gaza"
UN News: "Gaza: More than a million receive food aid since the start of the ceasefire", 05.02.2025
Times of Israel: "Anyone in Gaza City who doesn’t evacuate ‘can die of hunger or surrender’ Smotrich said to tell IDF chief", 23.08.2025
Google Ads Transparency Center
Social Media:
Instagram-Post von Majdi Fathi vom 22.07.2025
Instagram-Profil des palästinensischen Journalisten Hatem Hany Rawagh
Antwort des Restaurants "O2" in Gaza auf einen Facebook-Kommentar
Speisekarte O2 Restaurant auf Facebook vom 20. August 2025
YouTube-Kanal des israelischen Außenministeriums
Verweis auf den Youtube-Kanal auf der Webseite des israelischen Außenministeriums
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