Susanne Streifeneder kennt Übergriffe seit ihrer Kindheit. Verbale und körperliche. Sie hat PFFD (proximale fokale Femurdefizienz), eine seltene Fehlbildung des Oberschenkelknochens. Ihre linke Seite ist seit ihrer Geburt zum Teil stark verkümmert, sie ist auf Gehhilfen angewiesen. Und damit Ziel für Übergriffe.
Schubsen, Witze und sexualisierte Attacken
Beispiel: Sie will im Supermarkt ihre Einkäufe einpacken. Das dauert bei ihr, denn sie muss erst ihre Stützen abstellen und dabei das Gleichgewicht ausbalancieren. Erst kürzlich fing ein wartender Kunde an, sie als "Freiwild" zu beschimpfen, das nicht weglaufen kann. Abschätzige "Witze", ein Anraunen oder sexualisierte Attacken lassen sie sich als Frau zusätzlich unsicher fühlen.
Streifeneder wurde auch mehrfach körperlich angegangen, bei Gedränge geschubst. Manchmal ist sie sich danach nicht sicher, ob die Tat beabsichtigt war, vielleicht wurde ihre Behinderung nicht erkannt. Dann aber gibt es Fälle, bei denen für sie klar ist, dass sie als "entmenschlicht" betrachtet wird. Häufig erlebe sie das, sagt die junge Frau.
Studie: Menschen mit Behinderung hohem Gewalt-Risiko ausgesetzt
Zahlen zu Übergriffe auf Menschen mit Behinderung im öffentlichen Raum werden nicht erhoben. Zur Gewalt in Einrichtungen hat das Bundesfamilienministerium eine Studie in Auftrag gegeben (externer Link), mit erschreckender Bilanz: Diese Personengruppe ist demnach einem hohen Gewalt-Risiko ausgesetzt. Mehr als ein Viertel der Werkstattbeschäftigten (26 Prozent) hat in den letzten drei Jahren sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt, davon Frauen (37 Prozent) mehr als doppelt so häufig wie Männer (15 Prozent).
Holger Kiesel, Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung, sieht eine Zunahme der Aggression im öffentlichen Raum: Immer öfter kommt es zu verbalen Angriffen, herabsetzenden Kommentaren oder Situationen, die an die Grenze zur Handgreiflichkeit reichen, sagt Kiesel. Der Umgangston habe sich deutlich verschärft, die Aggressionsschwelle sei gesunken. Draufhauen auf Wehrlose: wie kann das sein?
Landesbeauftragter sieht Grund in krisenhafter Grundstimmung in Gesellschaft
"Tja", sagt Holger Kiesel. Er sitzt selbst im Rollstuhl. Ein Grund sei die allgemein krisenhafte Grundstimmung in der Gesellschaft: Viele Menschen hätten das Gefühl, zu kurz zu kommen – und suchten Ventile für ihre Unzufriedenheit. Diese würden dann manchmal auf besonders vulnerable Gruppen wie Menschen mit Behinderungen gelenkt.
Mit der wirtschaftlichen Krise werde in der politischen Debatte auch zunehmend anders über Menschen mit Behinderung gesprochen. Die Betroffenen werden oft auf Kostenaspekte reduziert: Zum Beispiel, wenn es um die finanzielle Unterstützung geht, damit Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben führen oder einem eigenen Beruf nachgehen können.
Die mit Steuermitteln bezahlte Eingliederungshilfe sei "zu teuer", Barrierefreiheit beispielsweise beim Wohnungsbau verursache "zu hohe Ausgaben", werde dann gerne behauptet. Dabei sei genau umgekehrt die Alternative zum selbstbestimmten Leben teuer, weil dann der Staat Aufgaben übernehmen muss, die sonst die Betroffenen selbst schultern, sagt Kiesel.
Statement auf Instagram: "Ich bin nicht zu teuer"
Anlässlich des Welttags zeigen sich heute auf dem Insta-Kanal des Behindertenbeauftragten Bayern (@behindertenbeauftragter_bayern) Menschen mit Behinderungen mit dem Statement "Ich bin nicht zu teuer". Die Aktion soll ein Gegengewicht zu entmenschlichenden Kostendebatten schaffen.
Gleichzeitig fordert Kiesel, die politische Diskussionen über Sozialleistungen zu versachlichen. Statt abstrakt über "hohe Kosten" zu sprechen, müsse man konkret analysieren: Was kostet bei den Leistungen genau wie viel? Und wo liegen echte Einsparpotenziale? Kiesel sieht sie bei der Bürokratie: komplexe Antragsverfahren, aufwändige Nachweise und Verwaltungsstrukturen verschlängen immense Ressourcen, sagt er. Hier lasse sich tatsächlich Geld sparen.
Susanne Streifeneder arbeitet als Podologin. Ihre Erfahrungen haben die energische junge Frau vorsichtig werden lassen. Sie trinkt beispielsweise keinen Alkohol. "Kontrollverlust macht mich eher zum Ziel", sagt sie. Und sie wägt ab, ob sie am Abend noch ausgeht, und sich damit unsicheren Situationen aussetzen will, oder doch lieber zuhause bleibt. In Sicherheit – aber damit ausgeschlossen.
"Inklusion muss gesellschaftlicher Grundwert sein"
Um das Sicherheitsgefühl von Menschen mit Behinderungen zu stärken, brauche es nicht mehr U-Bahn-Wachen oder Polizei, sondern mehr Dialog, mehr Verständnis füreinander, fordert der bayerischen Beauftragte Holger Kiesel. Mehr Wissen über den Alltag der betroffenen Personen. Inklusion, also dass Menschen mit Beeinträchtigungen dieselben Zugänge zum gesellschaftlichen Leben haben wie Menschen ohne Beeinträchtigung, müsse als gesellschaftlicher Grundwert parteiübergreifend als Ziel verfolgt werden.
7,9 Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer schweren Behinderung, das sind 9,3 % der Gesamtbevölkerung (Stand 2023) (externer Link). Die meisten von ihnen sind ältere Menschen. Angesichts der alternden Gesellschaft wird die Zahl der Inklusion-Bedürftigen wachsen.
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