Das Berufsförderungswerk in Kirchseeon im oberbayerischen Landkreis Ebersberg begleitet erkrankte Menschen auf ihrem Weg zurück in den Beruf. Lange lag der Fokus auf körperlichen Einschränkungen, beispielsweise Umschulungen für Landschaftsgärtner mit Rückenproblemen. Das habe sich aber mittlerweile verändert, sagt Jochen Kunert, Leiter der Abteilung für berufliche Bildung. Die psychischen Erkrankungen seien mehr geworden und zählten zu den häufigsten Gründen für lange Arbeitsunfähigkeiten: "Wir haben es wirklich mit manifesten psychischen Erkrankungen zu tun. Für viele ist es eine große Hoffnung, wieder zurückzukommen ins Arbeitsleben und damit auch am sozialen Leben teilhaben zu können."
Psychische Erkrankungen: "Auffälligster Trend im Krankenstand"
Die Menschen in Bayern waren 2024 im Schnitt 19,5 Tage krankgeschrieben – drei Tage davon aufgrund von psychischen Störungen. Das geht aus Daten der Betriebskrankenkassen (BKK) hervor, die BR-Datenjournalistinnen ausgewertet haben. Durchschnittlich drei Tage pro Jahr klingt erstmal nicht viel, doch die Zahlen steigen: 2016 war es im Schnitt noch knapp ein Tag weniger. Wie bei anderen Krankschreibungen sind auch die Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen deutschlandweit unterschiedlich verteilt.
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"Die Entwicklung psychisch bedingter Fehlzeiten und Krankschreibungen ist einer der auffälligsten Trends im Krankenstand der letzten zwei Jahrzehnte", schreibt Nikolaus Melcop, Präsident der Psychotherapeutenkammer Bayern, dem BR. In den BKK-Daten sieht man: Den größten Anteil bei den Erkrankungen machten die Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen aus, gefolgt von Depressionen.
Ein Anstieg der Erkrankungen überrascht Professor Hendrik Berth, Psychologe am Universitätsklinikum Dresden, nicht: "Seit Beginn der Corona-Pandemie und dann nachfolgend durch den Ukraine-Krieg sind wir quasi in einer Art Dauerstress auch auf gesellschaftlicher Ebene." Außerdem habe das Bewusstsein für psychische Gesundheit zugenommen, Stigmatisierung nehme ab, ergänzt Melcop von der Psychotherapeutenkammer: "Psychische Erkrankungen werden heutzutage besser erkannt und dokumentiert, was tendenziell zu mehr offiziellen Fehlzeiten führt." Viele Betroffene fühlen sich eher in der Lage, professionellen Rat anzunehmen.
Durchschnittliche Krankschreibung länger als fünf Wochen
Die Zahlen der BKK-Versicherten legen auch offen, wie groß der Einschnitt in das Leben Betroffener ist: Psychisch Erkrankte fallen am Arbeitsplatz besonders lange aus. Im Schnitt dauert jede einzelne Krankmeldung länger als fünf Wochen, und damit mehr als bei jeder anderen Krankheitsgruppe.
"Wir sind alle motiviert, in unserem Leben das Beste zu erreichen. Das heißt, sowohl in unserem privaten Umfeld, Familie, Freunde, Hobbys, als auch in dem, was wir in der Arbeit machen", erklärt Hendrik Berth von der Universität Dresden im Gespräch mit BR24. Die Menschen müssten erlernen, das richtige Maß zwischen den eigenen Anforderungen und dem Herangehen an eigene Grenzen zu finden, um nicht in ein permanentes Stresserleben und ein permanentes Misserfolgserleben zu gelangen.
Beschäftige in sozialen Berufen besonders häufig betroffen
Treffen kann eine psychische Krankheit jeden. Allerdings zeigt ein Blick in die Statistik der BKK-Versicherten: Besonders viele Beschäftigte im Bereich der sozialen Dienstleistungen oder in Gesundheitsberufen werden wegen psychischen Krankheiten krankgeschrieben. Das könnte auch an den Arbeitsbedingungen liegen. "Diese Berufsgruppen sind durch ein hohes Maß an psychosozialem Stress, emotionaler Beanspruchung und häufig auch durch strukturelle Belastungen gekennzeichnet", sagt Melcop.
Ein besonderes Risiko für Menschen in Berufen mit geringer Bezahlung [externer Link] und wenig Wertschätzung sieht auch Professor Alkomiet Hasan, Leiter der Klinik für Psychiatrie am Bezirkskrankenhaus Augsburg. Er betont aber: "Es sind aber häufig nicht die beruflichen Tätigkeiten selbst, die krank machen. Es ist immer das berufliche Umfeld, das krank macht." Die Vorsitzende des BKK-Dachverbands, Anne-Kathrin Klemm, fordert qualifiziertes Führungspersonal, um ein gesundheitsförderndes Arbeitsumfeld zu schaffen: "In unseren Zahlen, die wir für Unternehmen machen, können wir zum Teil sogar nachverfolgen, wenn eine Führungskraft die Abteilung wechselt. Dann wandern die Arbeitsunfähigkeitsmeldungen mit dieser Führungskraft mit."
Ungleiche Geschlechterverhältnisse
Außerdem zeigen die Zahlen der BKK-Versicherten, dass es zwischen den Geschlechtern auffällige Unterschiede gibt: Frauen waren 2024 deutlich länger – durchschnittlich ca. 3,9 Tage – aufgrund von psychischen Erkrankungen krankgeschrieben als Männer (2,6 Tage). Dieser Unterschied zwischen den Geschlechtern ist über die vergangenen Jahre relativ konstant geblieben.
Das könnte daran liegen, dass Frauen besonders oft auch in besonders betroffenen Berufen arbeiten. Hinzu kommt: Frauen seien nach wie vor im familiären Umfeld ungleich stärker gefordert, sie würden dort immer noch den Hauptanteil an Sorgearbeit leisten, erklärt Melcop. Dadurch ergebe sich eine starke Doppelbelastung, die auch mit beruflichen Nachteilen einhergehe.
Gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber Männern und Frauen würden das Bild entscheidend mitprägen. "Wir wissen aus Studien, dass Männer mit psychischen Erkrankungen weniger häufig eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen und sich generell seltener ärztliche Hilfe suchen."
Wer lange Zeit ausfällt wegen einer psychischen Krankheit, findet etwa in Kirchseeon die nötige Unterstützung, um wieder fit zu werden für einen Beruf. Dort gibt es im Berufsförderungswerk seit Kurzem ein eigenes Trainingszentrum für Betroffene von Burnout oder Depression. Denn die Herausforderungen bleiben bestehen, sagt Leiter Kunert: "Wir haben in der Arbeitswelt eine Komplexität, die ständig zunimmt. Die Taktung ist einfach schneller geworden."
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