Darum geht's:
- Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und die französische Energieministerin tauschten sich 2022 über die Leistungsfähigkeit der französischen Atomkraftwerke (AKW) aus.
- Hintergrund war, dass Frankreich deutschen Strom benötigte. Viele französische AKW standen 2022 zeitweise still.
- Daten zeigen: Im gesamten Winter 2022/23 importierte Frankreich netto Strom aus Deutschland.
Atomkraft in Deutschland ist seit dem 15. April 2023 Geschichte. Der Ausstieg wurde von der damaligen Unions-FDP-Bundesregierung 2011 wegen der Nuklearkatastrophe von Fukushima beschleunigt. Um die Monate vor dem Abschalten der letzten AKW gibt es aktuell hitzige Diskussionen, angetrieben auch von Falschbehauptungen.
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Der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) sagte kürzlich im Bayerischen Landtag: "Umso peinlicher ist es, wenn wir jetzt lesen, dass Herr Habeck damals Briefe mit der Frage nach Frankreich geschrieben hat, ob er sich darauf verlassen könne, dass die Franzosen genügend Atomstrom produzieren und nach Deutschland liefern würden."
CDU-Politiker Jens Spahn, der schon im Bundestag saß, als die Koalition aus CDU und FDP den endgültigen Atomausstieg vorantrieb, hatte schon zuvor auf X geschrieben: "Um Atomstrom aus Frankreich betteln. Aber Kernkraftwerke in Deutschland abschalten."
Aiwanger und Spahn beziehen sich auf Berichte des Magazins "Cicero" und der "Bild", die sich um einen Brief von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) drehen. In sozialen Medien verbreiteten sich ebenso User-Behauptungen zu diesem Thema.
Experten: Frankreich brauchte deutschen Strom, nicht umgekehrt
Diese Behauptung ist falsch, das zeigen Daten zu Strom-Import und -Export. Im Gegenteil war es genau andersherum: Habeck fragte nach der Lage der AKW in Frankreich, weil Deutschland zu dieser Zeit Strom an die Nachbarn lieferte und sich auf den Winter vorbereiten musste. Die Stromversorgung in Deutschland war damals sowieso gesichert, auch ohne Importe, das sagen Experten. Derzeit importiert Deutschland wieder netto gesehen Strom, die deutschen Strompreise sind im europäischen Vergleich hoch.
Die Aussagen über einen angeblichen "Bettelbrief" seien "Quatsch" und eine "Verkehrung" der tatsächlichen Abläufe, sagt Bruno Burger im Gespräch mit dem #Faktenfuchs. Burger ist Professor am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme. "Aus meiner Sicht ist die Behauptung schlicht falsch und auch überhaupt nicht nachvollziehbar", sagt auch Leonhard Probst, der ebenfalls am gleichen Fraunhofer-Institut arbeitet. Burger und Probst erstellen Datenvisualisierungen zu Stromerzeugung, Strompreisen und Stromfluss in Europa.
Um zu verstehen, wie Burger und Probst zu ihrer Einschätzung kommen, muss man die Chronologie der Ereignisse im Jahr 2022 kennen.
Eine Chronologie der Ereignisse
Ab Juli 2022: Die Gas- und Strompreise in Deutschland steigen wegen des völkerrechtswidrigen Angriffes Russlands auf die Ukraine, die Gasspeicher sind ungewöhnlich leer und Russland liefert nur bis September Gas. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) beauftragt die Netzbetreiber, die Sicherheit des Stromnetzes für den Winter 2022/23 zu untersuchen, der sogenannte "Stresstest".
29. Juli 2022: Bei einem Energieministertreffen der Europäischen Union spricht Bundesminister Robert Habeck nach eigenen Angaben mit der damaligen französischen Energieministerin Agnès Pannier-Runacher. Es geht um die voraussichtlichen Leistungen der französischen Atomkraftwerke (AKW) im Winter 2022/23. Zu diesem Zeitpunkt waren sehr viele der 56 französischen AKW abgeschaltet, wegen Wartungen und Schäden. Frankreich fürchtet um seine Stromversorgung im Winter, unter anderem, weil dort viele Haushalte mit Strom heizen.
08. August 2022: Habeck schreibt einen Brief an die französische Energieministerin Agnès Pannier-Runacher, der dem BR vorliegt. Darin heißt es:
"Du sagtest, dass das Ziel der französischen Regierung ist, zum 1. November 2022 40 Gigawatt AKW-Leistung und zum 1. Januar 2023 50 Gigawatt am Netz zu haben. Kannst Du mir bestätigen, dass ich das richtig erinnert habe?"
Das BMWK schreibt auf #Faktenfuchs-Anfrage: "Es ging nicht um den Import von französischem Strom nach Deutschland, sondern um die Frage des Exports nach Frankreich, um die französische Stromversorgung zu sichern." Habeck habe für den "Stresstest" wissen wollen: Wie viel Strom muss Deutschland im Winter 2022/23 an Frankreich liefern?
19. August 2022: Pannier-Runacher antwortet Habeck, das Antwortschreiben liegt dem BR vor. Sie schreibt unter anderem: "Ich zähle auf Ihre aktive Unterstützung in dieser Frage. In Anbetracht der besonderen Schwierigkeiten, die für die Stromversorgung Frankreichs im kommenden Herbst und Winter zu erwarten sind, werden wir einen reibungslosen Ablauf des Stromaustauschs an den grenzüberschreitenden Verbindungsleitungen benötigen, insbesondere mit Deutschland."
29. August 2022: Habeck und Pannier-Runacher telefonieren miteinander. In einem Protokoll dieses Telefonats, aus dem das Magazin Cicero zitiert, wird die französische Ministerin folgenderweise wiedergegeben: "Wichtig, dass wir technische Probleme (bei den französischen AKW, Anm. d. Red.) bis Winter lösen. Sind in derselben Situation wie Ende Juli. Wir wissen nicht, wie der Winter wird: Wenn er kälter wird, brauchen wir auch mehr Unterstützung." Pannier habe auch nach den deutschen AKW gefragt.
05. September 2022: Die deutschen Netzbetreiber legen die Ergebnisse ihres Stresstests vor. Ein durchgespieltes Szenario: Die französischen AKW kehren nur zu zwei Drittel an das Netz zurück. Habeck schlägt vor, die beiden deutschen AKW Isar 2 und Neckarwestheim als "Einsatzreserve" bis Mitte April 2023 zur Verfügung zu halten. Später entscheidet Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), die AKW Isar 2, Neckarwestheim 2 sowie Emsland bis zum 15. April 2023 zu betreiben.
September 2022: Deutschland und Frankreich sichern sich in der Energiekrise gegenseitige Solidarität zu. "Deutschland braucht unser Gas, und wir brauchen den Strom, der im übrigen Europa und insbesondere in Deutschland produziert wird", sagt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Später, im November, unterzeichnen Bundeskanzler Olaf Scholz und die damalige französische Premierministerin Élisabeth Borne eine Erklärung zur Energiesolidarität.
Daten zeigen deutschen Strom-Export nach Frankreich
"Es hat durch den französischen Kernkraftausfall nicht nur Strom in Frankreich gefehlt, sondern in ganz Europa war dadurch eine Strommangellage", sagt Strommarkt-Experte Bruno Burger zur Situation 2022. Deutschland konnte in dieser Mangellage mit seinen steuerbaren fossilen Kraftwerken sehr viel Strom produzieren.
Auch die Daten zeigen, dass Deutschland von Oktober 2021 bis April 2023 mehr Strom nach Frankreich lieferte als andersherum – den ganzen Winter 2022/23 also. Für 2022 kann man das zum Beispiel im Jahresbericht des französischen Netzbetreibers RTE nachlesen. Auch nach Angaben des Verbands Europäischer Übertragungsnetzbetreiber importierte Frankreich netto 15,3 Terawattstunden im Jahr 2022 aus Deutschland. Für die Monate bis April 2023 zeigt sich dort ebenso der französische Import.
Beide Wissenschaftler vom Fraunhofer-Institut weisen auf die Äußerungen von Präsident Macron hin: Frankreich habe bei Deutschland nachgefragt, nicht andersherum. Das BMWK schreibt auf #Faktenfuchs-Anfrage: "Für die Beurteilung der Stromversorgungssicherheit im Winter 22/23 war es deshalb ein wichtiger Faktor, wie groß die Verfügbarkeit der französischen Kernkraftwerke ist, ob sich dort die Lage im Winter weiter verschlechtern und deshalb noch größeren Mengen Strom nach Frankreich exportiert werden müssen."
Deutschland hätte sich immer selbst versorgen können
Und was ist dran an der Behauptung, Habeck habe bei seiner Frage an die Abschaltung der deutschen Kernkraftwerke Ende 2022 gedacht? Weil dadurch dann eine Lücke in Deutschland entstanden wäre, wie User schreiben?
Ebenfalls unlogisch, sagt Bruno Burger. Deutschland habe sich selbst versorgen können: "Wir haben genügend Erzeugungskapazität." In 2022 seien zwischen Erzeugungskapazität und Höchstverbrauch in Deutschland 20 Prozent Reserve gewesen. "Auch 2023 hatten wir die Reserve und von daher sind wir nicht angewiesen gewesen auf den Strom von Frankreich", sagt Burger.
Die Bundesnetzagentur sagte ebenfalls gegenüber der Tagesschau im April 2024: "Deutschland verfügt über ausreichend Erzeugungskapazität, um den Strombedarf auch ohne Importe jederzeit zu decken."
"Deutschland könnte auch inländisch seinen gesamten Bedarf decken. Das wäre halt volkswirtschaftlich teurer", sagt Leonhard Probst. Denn im europäischen Strommarkt wird nach einem Prinzip von Angebot und Nachfrage produziert: Das günstigste Kraftwerk produziert, der höchste Preis bekommt den Strom. Deutschland könnte selbst Strom produzieren, müsste dafür aber fossile Energieträger importieren. Ökonomisch sei der europäische Strommarkt die bessere Variante, als Erdgas zu verstromen, sagt Probst.
"Der europäische Elektrizitätsbinnenmarkt trägt so zu günstigeren Strompreisen sowie geringeren CO2-Emissionen bei", schreibt die Bundesnetzagentur auf ihrer Webseite.
Deutschland importiert seit 2023 Strom aus dem Ausland
Unabhängig vom Winter 2022/23, um den es in den Behauptungen geht: Deutschland war lange Strom-Exporteur, seit 2023 importiert es aber mehr. Im ganzen Jahr 2023 lieferte Frankreich zum Beispiel wieder mehr Strom an Deutschland als umgekehrt, nämlich netto 0,4 Terawattstunden nach Angaben des Verbands Europäischer Übertragungsnetzbetreiber. Zum Vergleich: 2023 wurden laut Umweltbundesamt insgesamt 525 Terawattstunden Strom in Deutschland verbraucht.
Im ersten Halbjahr 2024 stieg der deutsche Strom-Import deutlich an, auch mit Strom aus Frankreich. Manche Wissenschaftler sehen das kritisch. Deutschland verhalte sich mit der Abschaltung seiner AKW "egozentrisch" und verlasse sich auf die Nachbarn, sagte zum Beispiel der Energieökonom Manuel Frondel der "Bild".
Andreas Fischer, ebenfalls Energieökonom, schrieb dagegen: "Dieser Importüberschuss ist aber kein Zeichen dafür, dass der deutsche Kraftwerkspark nicht mehr ausreicht, die eigenen Bedarfe zu decken." Stattdessen werde Strom schlicht dann importiert, wenn er in den Nachbarländern günstiger sei und Leitungen nach Deutschland frei.
Was die Preise für Privatverbraucher angeht: Die gehören in Deutschland zu den höchsten im EU-Vergleich, wie Daten des Statistischen Amtes der Europäischen Union zeigen. Bei den Preisen für einen Verbrauch bis 2.500 Kilowattstunden war der Strom im ersten Halbjahr 2023 lediglich in Liechtenstein und Belgien teurer. Bei den Industriestrompreisen sieht es anders aus. In einer Studie für die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft zeigte sich: Deutschland liegt hier im europäischen Durchschnitt. Länder in Asien oder Amerika haben teils aber deutlich niedrigere Industriestrompreise.
Fazit
Im Jahr 2022 fürchtete Frankreich um seine Stromversorgung für den Winter, weil sehr viele seiner Atomkraftwerke nicht liefen. Deswegen tauschten sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und die französische Energieministerin über die französischen AKW-Kapazitäten aus.
Die Darstellung des Ministeriums stimmt: Frankreich benötigte deutschen Strom, nicht andersherum. Andere Behauptungen sind falsch. Auch bei ausbleibenden Stromimporten aus Frankreich hätte Deutschland sich stets selbst versorgen können.
Quellen
Presseanfrage an das Bundeswirtschaftsministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK)
Schreiben Bundesminister Robert Habeck an Ministerin für die Energiewende Agnès Pannier-Runacher vom 08. August 2022
Antwortschreiben Agnès Pannier-Runacher an Robert Habeck vom 19. August 2022
Interview mit Bruno Burger und Leonhard Probst, Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme
Réseau de Transport d'Electricité: Bilan Électrique 2022
Grafiken zu grenzüberschreitendem Stromhandel: energy-charts.info (mit Angaben des Verbands Europäischer Übertragungsnetzbetreiber)
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