Es sind Ermittlungen, die die Ukraine erschüttern. Die unabhängigen Anti-Korruptionsbehörden des Landes erheben schwere Vorwürfe: gegen eine ganze Reihe hochrangiger Beamte und gegen einen Vertrauten von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Es geht um Schmiergeldzahlungen und Geldwäsche. Justizminister Herman Haluschtschenko und Energieministerin Switlana Hryntschuk traten im Zuge des Korruptionsskandals zurück. Was bislang über die Affäre bekannt ist.
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Worum geht es in dem Korruptionsskandal?
Das Nationale Antikorruptionsbüro (Nabu) und die Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP) der Ukraine haben Ermittlungen bei dem für den Betrieb der Kernkraftwerke zuständigen Staatskonzern Energoatom bekanntgemacht. Es geht um Bestechungsgeld, das beim Bau von Schutzvorrichtungen um Energieanlagen gegen russische Luftangriffe geflossen sein soll.
Am Dienstag sprach das Antikorruptionsbüro von fünf Festnahmen und sieben Verdachtsfällen, die Ermittlungen liefen gegen eine "hochrangige kriminelle Vereinigung". Die Gruppe soll etwa 100 Millionen US-Dollar (86,4 Millionen Euro) an Schmiergeld gewaschen haben. Die Ermittler veröffentlichten auch ein Foto mit einem Berg an noch eingeschweißten Dollarscheinen.
Wer steht bei den Ermittlungen im Fokus?
Im Zentrum der Ermittlungen steht ein langjähriger Wegbegleiter von Präsident Selenskyj, Tymur Minditsch. Er ist Miteigentümer der Produktionsfirma Kwartal 95. Die Firma war von Selenskyj gegründet worden, der früher als Komiker und Schauspieler auftrat, bevor er für das Präsidentschaftsamt kandidierte. Laut Antikorruptionsstaatsanwaltschaft übte Minditsch "Kontrolle über die Anhäufung, Verteilung und Legalisierung von Geldern aus, die durch kriminelle Handlungen im Energiesektor der Ukraine erlangt wurden".
Minditsch und ein mit ihm befreundeter Geschäftspartner sollen zwischen 10 und 15 Prozent kassiert haben bei Aufträgen von Energoatom und das Geld dann über ein Netz von Firmen gewaschen haben. Geld soll laut Ermittlern ins Ausland abgeflossen sein, darunter auch nach Russland. Laut ukrainischen Medien könnte Minditsch auch in dem für die Ukraine wichtigen Bereich der Rüstungsindustrie illegale Geschäfte gemacht und sich bereichert haben. Im Raum steht auch der Vorwurf, dass Minditsch mit seiner Nähe zu Selenskyj Einfluss auf Personalentscheidungen in der Regierung genommen haben könnte.
Minditsch soll sich nach einem Tipp zu einer bevorstehenden Hausdurchsuchung ins Ausland abgesetzt haben. Medienberichten nach befindet er sich in Israel.
Was wird dem Justizminister vorgeworfen?
Der ukrainische Justizminister Herman Haluschtschenko, der früher Energieminister war, ist laut den Ermittlern in den Skandal verstrickt. Ihm wirft die Behörde vor, in seiner Zeit als Energieminister "persönliche Vorteile" von Minditsch erhalten zu haben – im Gegenzug für die Kontrolle über die Geldflüsse im Energiesektor.
Am Dienstag hatte es bei Haluschtschenko Durchsuchungen gegeben, am Mittwoch wurde er zunächst von seinen Aufgaben entbunden, später erklärte er auf Druck von Präsident Selenskyj seinen Rücktritt. Haluschtschenko kündigte an, sich rechtlich verteidigen und seine Position darlegen zu wollen. Sein Ministerium hatte am Vortag mitgeteilt, die Strafverfolgungsbehörden in vollem Umfang zu unterstützen.
Welche Regierungsmitglieder sind noch betroffen?
Von den Ermittlungen sind mehrere ehemalige und amtierende Regierungsmitglieder betroffen. Die amtierende Energieministerin Switlana Hryntschuk erklärte am Nachmittag ihren Rücktritt, nachdem Präsident Selenskyj dies gefordert hatte. Zugleich wies sie jegliches Fehlverhalten zurück.
Im Visier der Ermittler ist auch Ex-Vizeregierungschef Olexij Tschernyschow, der ebenfalls als enger Vertrauter Selenskyjs gilt und bereits seit Juni in einem anderen Verfahren zu Immobilienmachenschaften unter Korruptionsverdacht steht.
Minditsch hat nach Überzeugung der Ermittler zudem Einfluss auf Ex-Verteidigungsminister Rustem Umjerow ausgeübt. Umjerow räumte in einer Stellungnahme zwar Kontakte zu Minditsch ein, wies aber Korruptionsvorwürfe strikt zurück.
Was sagt Präsident Selenskyj?
Der ukrainische Präsident hatte sich zunächst nur zu den Ermittlungen gegen Energoatom geäußert, ohne auf Details oder Namen einzugehen. Schuldige sollten verurteilt werden, sagte er. Maßnahmen gegen Korruption seien dringend erforderlich. Zugleich rief Selenskyj die Regierungsbeamten zur Zusammenarbeit mit den Ermittlern auf.
Am Mittwoch ging Selenskyj in die Offensive, forderte den Rücktritt des zunächst nur suspendierten Justizministers. Zudem rief er auch Energieministerin Hryntschuk zum Rücktritt auf. Es sei "absolut nicht normal", dass es im Energiesektor immer noch "irgendwelche Machenschaften" gebe. Das Staatsoberhaupt kündigte "eine Säuberung und einen Neustart bei der Leitung von Energoatom" an.
Warum ist der Fall so brisant für die Ukraine?
Es scheint um den größten Bestechungsskandal der Ukraine zu Zeiten des seit mehr als dreieinhalb Jahren dauernden Krieges gegen den Angreifer aus Russland zu gehen. Das in die EU strebende Land gilt trotz Reformen immer noch als einer der Staaten in Europa mit der höchsten Korruptionsanfälligkeit. Die Bekämpfung der Korruption und die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit sind zentrale Voraussetzungen für den von der Regierung in Kiew angestrebten EU-Beitritt.
Der Staatskonzern Energoatom gilt als besonders bedeutend, weil in dem Land der Hauptteil der Energieerzeugung von Atomkraftwerken kommt. Die Energiewirtschaft steht besonders jetzt in der kalten Jahreszeit im Fokus, weil viele Anlagen durch die russischen Drohnen- und Raketenangriffe beschädigt oder zerstört sind. Für die ukrainische Regierung kommt der Skandal zur Unzeit, weil viele Menschen in Kälte und Dunkelheit sitzen, während sich Beamte bei illegalen Geschäften bereichert haben sollen.
Die ukrainische Führung stand bereits im Sommer in der Kritik, weil sie versuchte, den beiden Ermittlungseinheiten Nabu und SAP die Unabhängigkeit zu entziehen. Das Parlament hatte dazu ein Gesetz verabschiedet. Nach heftigen Protesten in der Ukraine und seitens der Europäischen Union wurde dies rückgängig gemacht.
Mit Informationen von AFP, dpa und Reuters
Video: Am Nachmittag traten die Energieministerin und der Justizminister zurück
Am Nachmittag traten die Energieministerin und der Justizminister zurück.
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