Alfred Selbenbacher denkt ans Aufgeben. Der Hüttenwirt der Kaser-Alm im Südtiroler Pustertal wurde kürzlich von Gästen mit Pfefferspray attackiert. Eine Portion Röstkartoffeln, die nach Ansicht der Besucher aus Verona zu lange auf sich warten ließ, habe die Männer dazu veranlasst, ihm das Spray ins Gesicht zu halten und abzudrücken. "Ich sah nur noch schwarz", erzählt Selbenbacher im Gespräch mit BR24. Auch seine Frau habe eine Ladung abbekommen. Den 14-jährigen Sohn bewarfen die Randalierer mit Gläsern, so schildert es der Hüttenwirt.
"Das ist nicht mehr normal, das ist nicht mehr schön", sagt Selbenbacher. Immer häufiger kämen Touristen, die sich auf der kleinen Alm auf 2.076 Metern eine Vier-Sterne-Bewirtung erwarten. "Wir kochen alles frisch, das dauert eben länger", erklärt Selbenbacher. Ein guter Kaiserschmarrn etwa brauche 20 Minuten. Zeit, die manche Wanderer offenbar nicht haben. "Die kommen schon mit so einem Stress, einer Hektik zu uns herauf", bedauert der Hüttenwirt.
Berge "voller Unvorbereiteter und Proleten"
Berichte wie diesen gibt es mehrere: Auf einer Schutzhütte in den Dolomiten haben Touristen kürzlich eine Glastür eingeschlagen. Aus Frust, weil sie den Wanderweg mit dem Klettersteig verwechselten. Eskaliert die Situation in Südtirols Bergen häufiger, weil immer mehr Urlauber kommen?
Auf Instagram verbreiteten sich zuletzt Videos von überfüllten Wanderrouten und langen Schlangen vor Liften, etwa aus dem Wandergebiet rund um die Seceda. Der Präsident des italienischen Alpenvereins CAI, Carlo Zanella, ließ sich im Interview mit der Zeitung "Corriere della Sera" (externer Link) darüber aus: Heutzutage seien die Berge "voller Unvorbereiteter und Proleten".
Fast 70 Touristen auf einen Einwohner
Ein Blick auf die Zahlen bestätigt die anekdotische Evidenz: Laut jüngster Erhebung des Instituts Demoskopika liegt Bozen italienweit an erster Stelle, wenn man auf die touristische Intensität blickt, also das Verhältnis zwischen Besuchern und Einheimischen: mit 69 Übernachtungsgästen pro Einwohner. Doch Überfüllung ist nur eine Erklärung dafür, warum es zu mehr Fehlverhalten kommt.
Wenn sich Touristen daneben benehmen, hängt das oft mit einer falschen Erwartungshaltung zusammen, sagt Barbara Horvatits-Ebner. Als forensische Psychologin beschäftigt sie sich mit Kriminalität, als Reisebloggerin ist ihr das Benehmen mancher Urlauber aus eigener Erfahrung bekannt. "Als Tourist geht man davon aus, man ist zahlender Kunde, man ist dort quasi König, man hat einen großen finanziellen Aufwand und fühlt sich dadurch erhaben", erklärt die Expertin.
Disneyfizierung: Wenn ein Ort wie eine Kulisse wirkt
Instagram und TikTok seien Teil des Problems, weil sie einem das Paradies vorgaukeln. Wenn dann der Fotospot überfüllt, der Weg ins Tal zu steil oder der Kellner zu langsam ist, kommt es zu Enttäuschungen. "Menschen gehen ganz unterschiedlich mit Frustration um, manche werden aggressiv", so Horvatits-Ebner. "Fehlverhalten ist ein Zusammenspiel aus unserer Persönlichkeit, den Umständen und auch der Gruppe."
Ein weiteres Phänomen, das auch in Südtirol eine Rolle spielen könnte, ist die sogenannte Disneyfizierung. Je malerischer ein Ort, desto stärker wirkt er auf Urlauber wie eine Kulisse. "Man glaubt dann, man ist in einer Parallelwelt", so die Expertin. Hallstatt zum Beispiel, das ironischerweise als Inspiration für den Disneyfilm "Frozen" diente, erlebe dieses Phänomen: "Da gibt es Touristen, die in private Gärten eindringen, die glauben, das ist dort alles eine Welt, die man wie ein Freilichtmuseum erkunden kann."
Was will Südtirol tun?
Tourismusforscher empfehlen Maßnahmen von der Regulierung von Besucherströmen über die Förderung alternativer Ziele bis hin zu Anreizen für Reisen während des gesamten Jahres. Letzteres fällt schon mal weg: Südtirol wird von Frühling bis Winter als Reiseziel beworben. Ein Beispiel für Besuchermanagement gibt es auch: am Pragser Wildsee. Besucher müssen dort ein Ticket für einen bestimmten Zeitslot kaufen.
Eine Ausweitung dieses Systems sei für weitere Ziele wie die Drei Zinnen oder die Seceda denkbar, berichten mehrere Medien unter Berufung auf die Südtiroler Landesregierung. Auf Nachfrage von BR24 gibt man sich dort schmallippig. Nur so viel ist zu erfahren: Heute steht dazu eine weitere Gesprächsrunde an.
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