Anders als für Unwetterfronten hat die Meteorologie für die Vorhersage von "Shitstorms" noch keine Prognosetools entwickelt. Diesen hier hatte selbst Bayerns Ministerpräsident Markus Söder nicht kommen sehen. Auslöser: Ein Satz, den Söder zur Münchner Automobilmesse in der "FAZ" formulierte:
"Ohne Auto, Maschinenbau und Chemie ist Deutschland eine Dame ohne Unterleib."
Das Presseecho: gewaltig. Weil Söder damit nicht nur – so ein Kommentar im "Sonntagsblatt" – "Frauen verhöhnt" und – so die "SZ" – "der Autoindustrie schadet", sondern sich auch Sexismus-Vorwürfe einhandelt.
Frauenrechte? Da ist Bayern "ziemlich geil"
Einer kommt von einer Schülerin in der BR-Sendung "jetzt red i" vom 25. September, die Söder auch die Frage stellt, was er unternehme, um die Gleichberechtigung der Frau zu fördern. Söder verweist in seiner Antwort darauf, nur eine "alte deutsche Metapher" benutzt zu haben, die er – "wenn's jemand verletzt" – nun nicht mehr verwenden wolle. Und er listet auf, was Bayern seiner Meinung nach zum Vorreiter der Gleichberechtigung macht: Da sei Bayern "ehrlich gesagt ziemlich geil".
Das Video des Dialogs hat auf TikTok inzwischen über vier Millionen Aufrufe. Und wirft drei Fragen auf: Warum spricht Söder von einer "Dame ohne Unterleib" – und nicht etwa von einem Mann ohne **** oder, näher am Thema: einem Auto ohne Motor? Wo hat die Redewendung ihren Ursprung? Und was tut Bayern in Sachen Gleichberechtigung?
Damen ohne Unterleib: in der Sprache weit verbreitet
Ehrenrettung für Söder: Seine Metapher ist weit verbreitet. Im Internet findet sich – überlagert von der aktuellen Debatte – manches, was so bezeichnet wurde: die FDP, falsch proportionierte Häuser, auch Belgien und Werder Bremen; letztere in der linken "taz". 2007 warf Kurt Beck (SPD) der damaligen Familienministerin von der Leyen vor, ihre Kita-Förderung sei eine... genau. Und ergänzte: man dürfe "den Leuten nicht die Würste an die Decke hängen."
Zuletzt hat der Gebrauch der launig gemeinten Wendung allerdings nachgelassen. Wer die Geschichten von Antonia Matt, der bekanntesten "Dame ohne Unterleib", und anderer "Half Ladys", wie sie im Englischen bezeichnet werden, kennt, wird vielleicht auch ohne Eingreifen der "Sprachpolizei" auf sie verzichten.
Antonia Matt: Halber Körper, großer Mut
Antonia Matt kam 1887 als schwerstbehindertes Mädchen im vorarlbergischen Ludesch zur Welt. Privatschul-Unterricht wird ihr von der Dorfgemeinde verweigert: Man wolle sie nicht bevorzugen. Trotz guter Noten findet sie in ihrem Wunschberuf Schneiderin keine Anstellung. Stattdessen wird sie in Innsbruck als "lebendige Modepuppe" auf einer Drehscheibe ins Schaufenster gestellt.
Dort entdeckt sie eine Schaustellerfamilie als Attraktion für ihre "Schaubude" und reist fortan mit dem Kunstgeschöpf "Mademoiselle Gabrielle" durch Europa – auf die Pariser Weltausstellung 1900 wie aufs Münchner Oktoberfest. Als Artistin weltberühmt und wohlhabend wird Antonia in den USA beim Zirkus Barnum & Bailey. Ihren Lebensabend verbringt sie wieder in Europa – teils in einem Kriegsversehrtenheim in Mittelberg (Allgäu). Die Autorin Helma Bittermann, die diese Lebensgeschichte in ihrem Sammelband über "Tollkühne Frauen" aufgezeichnet hat, schildert sie als mutige Frau, die behauptet: "Frauen benötigen keine Beine. Ich habe sie nie vermisst."
Überleben im "Menschenzoo"
Der Kontext, in dem die "Damen ohne Unterleib" in Erscheinung treten, ist die um 1900 und teils bis in die 1960er populäre Zurschaustellung von Menschen mit ungewöhnlichen Beeinträchtigungen oder aus "exotischen" Kulturkreisen auf Volksfesten, in sogenannten Abnormitäten- oder Völkerschauen: "Siamesische Zwillinge", Hungerkünstler, "Eskimos" und "Rothäute". Letztere sind nicht nur wie Matt verbalen und sexuellen Übergriffen ausgesetzt, sondern sterben in der Fremde häufig an Krankheiten.
"Vorspiegelung falscher Tatsachen"
Man kann es dem Fortschritt zugutehalten oder schlicht auf einen Mangel geeigneter "Exponate" zurückführen, dass spätere Half Ladys wie Arabella (Plakat des Münchner Stadtmuseums, externer Link) ihre Besonderheit nur Vortäuschen: Ihr inflationäres Auftreten ist auf raffinierte Spiegel- und andere Tricks zurückzuführen. So berichtet die Wiener Illustrierte Kronen-Zeitung 1911 über Anna Christl, genannt Suleyka, deren Verehrer nach der Show als "Herren ohne Brieftasche" dastanden.
US-Patent 1.458.575 - "Eine Frau in zwei Hälften sägen"
Häufiger jedoch sind halbierte Frauen Opfer, zumindest Objekte: Von Männern ohne Unterleib ist ebenso wenig bekannt wie von Frauen, die auf der Bühne Männer zersägen. Umgekehrt wird der Gattinnen-Zersäger Horace Goldin zur Showlegende, wozu auch die Auftritte von Sanitätern beitragen, die suggerieren sollen, dass für die Frau im Kasten Lebensgefahr besteht. Einen Karriereknick trägt Goldin erst der Versuch ein, seine Nummer patentieren zu lassen – wofür er offenlegen muss, dass es sich um einen Trick handelt.
Der Variete-Künstler Horace Goldin zersägt 1925 im Hamburger Hansa-Theater seine Frau
Bayern: Unterleib ohne Frauenkopf?
Heute scheint die Zeit der "Damen ohne Unterleib" vorbei. Auf dem Stuttgarter Volksfest jedenfalls wurde 2022 eine Revue mit kopf- und rumpflosen Damen abgesagt – man wollte "keine Stereotype" abbilden. Was zur Frage führt, wie es mit der Gleichberechtigung in Bayern steht.
Dass die nicht leicht zu beantworten ist, liegt auch daran, dass die Staatsregierung den unter Barbara Stamm 1996 eingeführten "Gleichstellungsbericht" gerade abschafft. Der letzte stammt von 2018 und zeigte: je höher die Führungsebene im öffentlichen Dienst, desto geringer der Frauenanteil. Bayerns Verwaltung wäre also so etwas wie ein Unterleib mit wenig weiblichem Köpfchen. Was übrigens auch für die politische Ebene gilt: in Bayerns Regierung sitzen neben Söder noch 13 Männer und gerade mal vier Frauen.
Audio: Frauen in der Politik – eine Bilanz
Frauen in der Politik haben es wieder schwerer
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