Das Bild zeigt einen Rollstuhl vor der Flucht eines leeren Krankenhausflures.
Das Bild zeigt einen Rollstuhl vor der Flucht eines leeren Krankenhausflures.
Bild
Deutschlands Sozialstaat: „Ein System auf Windows 95“
Bildrechte: Bildrechte: colourbox.com/1586, colourbox.com/1104; Montage: BR;
Schlagwörter
Bildrechte: Bildrechte: colourbox.com/1586, colourbox.com/1104; Montage: BR;
Videobeitrag

Deutschlands Sozialstaat: „Ein System auf Windows 95“

Videobeitrag
>

Deutschlands Sozialstaat: "Ein System auf Windows 95"

Deutschlands Sozialstaat: "Ein System auf Windows 95"

Rente, Pflege, Gesundheit: 1,3 Billionen Euro Ausgaben für den Sozialstaat, alternde Gesellschaft, unfaire Verteilung. Wie können wir das ändern? Experten fordern einen großen Wurf statt Reförmchen.

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Kleine "Reförmchen" retten den Sozialstaat in seiner derzeitigen Form nicht, mahnt Zukunftsforscher Lino Zeddies. Die gegenwärtige Form stehe vor dem "Bersten". Die Ausgaben sind so hoch wie nie: Mit über 1,3 Billionen Euro jährlichen Ausgaben erreicht die Sozialleistungsquote inzwischen 31,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zum Vergleich: Anfang der 1990er Jahre lag sie noch bei 25 Prozent.

Der Sozialstaat basiert laut Zeddies noch immer auf der Nachkriegslogik der Notversorgung. Eine Anpassung an die gegenwärtigen Umstände fehlt bislang: "Als hätten wir einen Hochleistungsrechner auf dem Windows 95 läuft und die ganze Zeit Bugs produziert."

Experten wie Zeddies und auch der Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen warnen im BR24-Interview für das neue "Possoch klärt" (Video oben, Link unten) davor, die Augen vor dieser Entwicklung zu verschließen.

Im Video: Sozialstaat abschaffen!? Possoch klärt!

Ist der Sozialstaat noch gerecht?

Der Armutsforscher Manuel Schechtl kritisiert das überwiegend proportionale Steuer- und Abgabensystem: "Das heißt: die ärmsten Teile der Bevölkerung zahlen einen ähnlich hohen Anteil ihres Einkommens an Abgaben und Steuern wie die reichsten Teile der Bevölkerung. Was noch viel schlimmer ist: wenn man in die Vermögensverteilung geht, bezahlen die Vermögendsten in Deutschland eigentlich am wenigsten."

Schechtl sieht in einer Vermögensteuer nach Schweizer Vorbild eine Option: Sie würde Deutschland jährlich 73 Milliarden Euro zusätzlich einbringen. Seit der Aussetzung Mitte der 1990er Jahre sind so bereits 380 Milliarden Euro entgangen.

Sozialstaat: Mehr als nur Auffangnetz

Sozialwissenschaftler Fabian Pfeffer bedauert, dass die Diskussion verengt wird auf die "Ausgaben für die Allerärmsten" und deren vermeintlichen Missbrauch. Dabei mache das oft kritisierte Bürgergeld nur vier Prozent der Sozialausgaben aus. Die wirklichen Kostentreiber – Rente und Krankenversicherung – blieben hingegen oft ausgeblendet.

Die Alternative ist dystopisch

Ein Kollaps des Sozialstaats birgt Risiken. "Die Alternative zum Sozialstaat ist eine dystopische Gesellschaft," warnt Schechtl. Das zeige sich in den USA: "In den USA gibt es Leute, die mit 85 noch aufs Feld arbeiten gehen, weil die nicht in Rente gehen können, weil sie kein Geld mehr haben."

Ärmere Amerikaner leben 15 Jahre kürzer als wohlhabende Altersgenossen. Doch auch die reichsten Amerikaner sterben früher als die ärmsten Europäer. Ein fehlender oder stark eingesparter Sozialstaat führt zu höheren Kosten durch Obdachlosigkeit, Kriminalität und soziale Verwerfungen, warnt auch Fabian Pfeffer.

Lösungsansätze existieren

Im internationalen Vergleich ist die deutsche Ausgabenentwicklung moderat: Unter den 27 OECD-Ländern liegt Deutschland in Sachen Sozialabgaben auf dem drittletzten Platz mit 26 Prozent Wachstum zwischen 2002 bis 2022.

Experten sehen konkrete Optionen: Die Einnahmenseite kann durch progressive Vermögensbesteuerung und Einbeziehung aller Gesellschaftsschichten in die Sozialversicherung gestärkt werden. Die demografische Herausforderung lässt sich durch qualifizierte Migration angehen – junge Zuwanderer könnten das System als Beitragszahler stützen. Das Renteneintrittsalter sollte an die gestiegene Lebenserwartung angepasst werden.

Denkbar ist laut Zeddies auch ein radikaler Neustart des Sozialstaats: weg von der reinen Reparatur-Mentalität, hin zu einem System, das auf Teilhabe, Partizipation und ganzheitlicher Gesundheitsvorsorge und den Chancen der Digitalisierung aufbaut. Dann könnten Künstliche Intelligenz und Automatisierung den Sozialstaat effizienter machen, statt ihn zu belasten.

Demografischer Wandel als Treiber

Das Problem: Verschärft wird die Situation durch die demografische Entwicklung. Die teuersten Posten sind schon länger die Renten- und Krankenversicherung. Hinzu kommt: Die Pflegekosten haben sich zwischen 2013 und 2023 nahezu verdoppelt. Gleichzeitig steigen die monatlichen Eigenkosten für Pflegeheimplätze. Die Konsequenz: Die meisten Pflegebedürftigen werden durch Angehörige zuhause gepflegt – die dafür allerdings ihrerseits häufig beruflich kürzertreten. Und: Die Babyboomer-Generation geht in Rente, während immer weniger junge Menschen in die Sozialsysteme einzahlen.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!